SRF News Online: Christoph Blocher hat in «20minuten» gesagt: «Die anstehenden Verhandlungen sind kein Zuckerschlecken, aber wir sind in einer starken Position. Die EU ist Bittstellerin: Sie hat ein Interesse daran, dass wir weiter mit ihr zusammenarbeiten.» In welchen Bereichen hat die EU ein Interesse an der Zusammenarbeit mit der Schweiz und warum?
Urs Bruderer: In allen Bereichen. Das gilt aber umgekehrt auch für die Schweiz. Zusammenarbeit und Handel in beide Richtungen sind sehr intensiv. Die EU und die Schweiz haben den Eisenbahn-, Strassen- und Luftverkehr gemeinsam geregelt, sie fördern Filme und bauen Satelliten gemeinsam, sie tauschen Studenten aus und legen Forschungsgelder zusammen, und so weiter und so fort.
Die Beziehungen sind viel zu komplex, als dass man sagen könnte, hier profitiert die EU mehr, da die Schweiz. Auch für den gemeinsamen Arbeitsmarkt und die Personenfreizügigkeit gibt es keine einfache Kosten-Nutzenrechnung: Profitiert die EU, weil über eine Million EU-Bürger in der Schweiz leben und arbeiten und nur 430‘000 Schweizer in der EU? Oder profitiert die Schweiz, weil EU-Bürger zu ihrem wirtschaftlichen Erfolg beitragen und den Betrieb in Spitälern und Altersheimen aufrecht erhalten?
Wie hoch gewichtet die EU diese Interessen?
Hoch, die Schweiz ist für die EU wichtig. Umgekehrt ist die EU für die Schweiz überlebensnotwendig. Das zeigt ein Blick in die Handelsstatistiken. Die Schweiz ist der drittwichtigste Handelspartner der EU, nach den USA und China. Sechs Prozent ihrer Importe kommen aus der Schweiz, acht Prozent der Exporte gehen in die Schweiz. Umgekehrt ist die EU für die Schweiz mit gewaltigem Abstand Handelspartner Nummer eins. Die Schweiz importiert zu 80 Prozent aus der EU und exportiert zu 60 Prozent in die EU.
Welche anstehenden Abkommen sind besonders in Gefahr und warum?
Die Erweiterung der Personenfreizügigkeit auf Kroatien ist in Gefahr, weil die Initiative weitere Verträge ohne Kontingente verbietet. Zudem könnte das Abkommen über die Forschungszusammenarbeit (Horizon 2020) und das Abkommen über den Studentenaustausch in den nächsten sieben Jahren (Erasmus plus) kippen. Der Grund: Die EU-Kommission verknüpft diese Abkommen mit der Personenfreizügigkeit mit Kroatien.
Ebenfalls bedroht ist das Abkommen über eine neue Grundlage für die bilateralen Beziehungen, die Lösung der sogenannten institutionellen Fragen. Es macht keinen Sinn, einen neuen Rahmen für die bilateralen Abkommen zu schaffen, wenn das Personenfreizügigkeitsabkommen und – wegen der Guillotine – sechs weitere Abkommen zu fallen drohen. Und: Das Strommarktabkommen und alle weiteren Abkommen könnten nicht zu zustande kommen, weil die EU mehrfach erklärt hat, dass es keine neuen Abkommen gibt, so lange keine Lösung vorliegt für die institutionellen Fragen.
Welche schon abgeschlossenen Verträge sind in Gefahr und warum?
Da ist einmal das viel zitierte Personenfreizügigkeitsabkommen in Gefahr, denn es schliesst Kontingente aus, die Initiative hingegen schreibt sie vor. Die weiteren Abkommen aus dem Paket der Bilaterale I sind wegen der Guillotine-Klausel auf der Kippe. Die Bilaterle I regeln die technischen Handelshemmnisse, das öffentliche Beschaffungswesen, die Landwirtschaftsprodukte, den Landverkehr sowie den Luftverkehr. Und schliesslich prüft die EU, ob auch die Schengen- und Dublinabkommen hinfällig werden, also das gemeinsame Visasystem, die offene Grenzen und die Zusammenarbeit im Asylbereich.
Wird die EU eventuell doch bereit sein, bei der Personenfreizügigkeit Einschränkungen hinzunehmen?
Alle Zeichen stehen bisher auf Nein. Der freie Warenverkehr und der freie Personenverkehr gehören zusammen, sagen EU-Verantwortliche reflexartig, wenn man sie nach Ausnahmen für die Schweiz fragt.
Was kann die Schweiz herausholen bei neuen Verhandlungen?
Derzeit heisst es hier in Brüssel, Verhandlungen über Kontingente seien völlig ausgeschlossen. Da dies die zentrale Forderung der Initiative ist, scheinen Verhandlungen aussichtslos. Es sei denn, der Bundesrat fasst das Verhandlungsziel sehr bescheiden, zum Beispiel Wiedereinführung von Kontingenten in klar definierten aussergewöhnlichen Umständen, zum Beispiel Krieg. Doch damit dürften wohl die Initianten nicht einverstanden sein.
Interview: Christa Gall