SRF News online: Seit Einführung der Personenfreizügigkeit wandern jedes Jahr netto 70'000 bis 80'000 Ausländer in die Schweiz ein. Wie lange wird diese Entwicklung weitergehen?
Martin Janssen: Sie geht so lange weiter, wie Firmen auf diesem Weg Zusatzgewinne erzielen und die Einwanderer ihre Situation verbessern können. Und hier liegt das Problem: Die Zuwanderung spielt sich im Interesse der Firmen und Zuwanderer ab – nicht im Interesse der gesamten Schweiz. Diese hat mit den bekannten negativen Folgen wie teuren Wohnungen, Kapazitätsengpässen beim Verkehr, Integrationsproblemen und dem Verbrauch von Kulturland zu kämpfen.
Wird diese Zuwanderung nicht bald abnehmen?
Die Schweiz ist der Honigtopf Europas. Wir haben das höchste Volkseinkommen, den höchsten Lebensstandard und die tiefste Arbeitslosigkeit. Die Differenz gegenüber Deutschland ist nicht riesig. Trotzdem haben wir viele Einwanderer von dort. Gegenüber Ländern wie Bulgarien und Rumänien ist die Differenz jedoch sehr gross. Sobald diese Länder auch der Personenfreizügigkeit unterstehen, wird die Einwanderung eher noch zunehmen und sicher noch sehr viele Jahre andauern.
Der Ökonom George Sheldon spricht von einer «Massensesshaftigkeit». Dagegen sei die Initiative wirkungslos.
Herr Sheldon stellt richtigerweise fest, dass Niedrigqualifizierte länger bleiben als Hochqualifizierte. Und dass Niedrigqualifizierte eher sesshaft werden. Das spricht jedoch für die Initiative und nicht gegen sie. Denn wenn die Leute nicht mehr abwandern, muss man die Zuwanderung umso mehr begrenzen und dafür sorgen, dass wenig Niedrigqualifizierte einwandern.
Dies könnte der Bund über einen Preis steuern: Firmen müssten bei der Anstellung von Schlechtqualifizierten beispielsweise einen ganzen Jahreslohn abliefern, bei Gutqualifizierten zehn Prozent. So könnten die Zusatzgewinne der Unternehmen abgeschöpft werden, die aus der Zuwanderung entstehen. Andere Steuern könnten gesenkt und die Kosten der Zuwanderung gedeckt werden.
Niedrigqualifizierte kosten mehr, Hochqualifizierte weniger – ist das nicht diskriminierend?
Doch – aber wir wollen diskriminieren! Die EU diskriminiert, die USA, Kanada, Australien, Japan und die meisten anderen Ländern auch. Die Schweiz diskriminiert schon heute gegenüber Ausländern aus Drittländern und gegenüber Importen. Die Personenfreizügigkeit ist eine Diskriminierung zugunsten der EU. Wir sollten aber im Interesse der Schweiz diskriminieren.
Verdanken wir unseren Wohlstand nicht dieser Zuwanderung?
So allgemein ist diese Behauptung Unsinn. Auch zeigt die Realität: Zwischen 2002 und 2007 stiegen die realen Löhne pro Kopf. Seit der vollständigen Personenfreizügigkeit im 2007 sind die Löhne praktisch nicht mehr gestiegen – in Deutschland schon, trotz Krise. Hochqualifizierte Zuwanderer haben zwar hohe Löhne, und das Bruttoinlandprodukt der gesamten Schweiz steigt. Jenen, die bereits in der Schweiz wohnen, bringt dies aber nichts, im Gegenteil. Die Kosten, die im Konsumentenpreisindex ausgeblendet werden – Mieten, Arbeitswege, Stau in den Zügen etc. – steigen laufend. Die Lebensqualität ist in dieser Zeit im Durchschnitt gesunken und nicht gestiegen.
Was ist mit dem Profit für die Sozialwerke?
Diese Behauptung finde ich besonders dumm. Die Schweiz hat mit vielen Ländern Sozialversicherungsabkommen abgeschlossen. Wenn ein Deutscher in die Schweiz kommt, hier AHV einzahlt und wieder geht, müssen wir ihm dieses Geld zurückgeben. Bei Ländern ohne Abkommen können die zugewanderten Arbeitskräfte im Alter AHV-Zahlungen aus der Schweiz beziehen.
Und da spielt das Argument der Sesshaftigkeit eine tragische Rolle. Die Niedrigqualifizierten, die von der AHV profitieren, bleiben. Und den Hochqualifizierten, die mehr in die AHV einzahlen, als sie beziehen würden, müssen wir die Einzahlungen zurückgeben. Selbst wenn heute wegen der Einwanderung mehr Geld in die AHV fliesst, ist die Zuwanderung gerade aus der Sicht der Sozialwerke ein grosses Verlustgeschäft für die Schweiz.
SVP-Nationalrat Christoph Blocher verspricht, die Wirtschaft werde ihre Arbeitskräfte bekommen. Werden die Kontingente einfach den Bedürfnissen der Wirtschaft angepasst und infolge wirkungslos bleiben?
Die Idee der Initiative ist, dass die Schweiz wieder selber bestimmen kann, wie viele Zuwanderer kommen. Die Schweiz als Staat will keine 85‘000 Zuwanderer pro Jahr, davon bin ich überzeugt. Wichtig scheint mir aber, dass keine fixe Zahl festgelegt wird, sondern dass die Zuwanderung gemäss Konjunktur schwanken kann. Aber sie wird tiefer sein als die heutige Zahl, was den Unternehmungen und den Managern natürlich nicht passen wird.
Was ich ganz wichtig finde: Es sollten nicht Bürokraten in Bern oder in den Kantonen über die Ausschöpfung der Kontingente entscheiden. Man könnte die Bewilligungen zum Beispiel versteigern – mir als Ökonom gefällt diese Idee gut. Wenn wir Ärzte und Krankenschwestern benötigen, kostet eine Bewilligung vielleicht 5000 Franken. Wenn wir niemanden in der Landwirtschaft benötigen, kostet die entsprechende Bewilligung 50‘000 Franken. Das wäre eine kluge Ausgestaltung der Kontingente, praktisch ohne Bürokratie.
Was denken Sie, wird die Initiative am 9. Februar angenommen?
Ich denke Ja. Wenn jene, welche die Nachteile der Zuwanderung täglich am eigenen Leib erfahren, und jene, welche den Souveränitätsverlust der Schweiz stoppen wollen, Ja stimmen, wird es eine deutliche Mehrheit von Volk und Ständen geben.
Wie würde die EU Ihrer Meinung nach auf ein Ja reagieren?
Zum verbreiteten Schreckensszenario um die Bilateralen möchte ich zwei Dinge sagen: Erstens, die Bilateralen sind im überwiegenden Interesse der EU – sonst hätte sie diesen Abkommen gar nicht zugestimmt. Zweitens, alle EU-Staaten müssten sich gegen die Bilateralen aussprechen, eine Mehrheit reicht nicht. Es ist ausgeschlossen, dass alle EU-Staaten die Bilateralen kippen wollen. Die EU profitiert viel zu sehr von der Schweiz.
Der Anteil der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz ist mehr als doppelt so hoch wie in der EU. Die meisten Länder werden der Schweiz sogar Sympathie entgegen bringen und froh sein, dass wir uns getrauen, diesen Weg zu gehen. Wichtig ist, dass der Bundesrat dann den Willen von Volk und Ständen gegenüber der EU auch mit Überzeugung vertritt und durchsetzt.