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Medtech-Branche unter Druck «Wir Unternehmer gehen wie Wasser dort durch, wo wir Wege finden»

Vor einem Jahr sah der Geschäftsführer einer kleinen Medizintechnikfirma schwarz, sollte die Branche den freien Zugang zum EU-Markt verlieren. Ende Mai dürfte dies nun passieren. Wie reagiert der Unternehmer?

Das Unternehmen mit seinen rund zwanzig Angestellten schliessen, verkaufen – oder es ganz in die EU verlegen: Bei unserem ersten Besuch vor einem Jahr schilderte Gianni Müller, Geschäftsführer und Partner der Bürki innomed, düstere Szenarien für den Fall, dass der freie Marktzugang zur EU wegfällt. «Da kommt etwas auf uns zu, das können wir nicht stemmen.»

Heute ist eine Einigung zwischen der Schweiz und der EU beim Rahmenabkommen nach wie vor in weiter Ferne. Sehr zum Verdruss der EU. Geschieht nicht noch ein politisches Wunder, wird sie darum der Schweizer Medizintechnikbranche den freien Marktzugang Ende Mai entziehen (s.Box). Was passiert nun mit dem St. Galler KMU?

Wir fahren noch einmal ins Rheintal, nach Widnau. Auf den ersten Blick hat sich nichts verändert: Die gleichen Mitarbeiter programmieren CNC-Maschinen, die brummend und sirrend Kanülen aus Medizinalstahl bearbeiten. Frauen kontrollieren durch Mikroskope winzige, walzenförmige Teile, die später zu Augenoperationsinstrumenten zusammengefügt werden. Angestellte arbeiten im sterilen Bereich mit weissen Häubchen und blauen Mundmasken. Und Gründer Martin Bürki tüftelt an Weiterentwicklungen. Das Geschäft mit Instrumenten und Geräten rund um Augenoperationen laufe immer noch gut, mit gleichem Personalbestand, sagt er. Ihre Produkte exportiert die Firma zu 70 Prozent in die EU.

Wo liegt das politische Problem der Medizintechnikbranche?

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Die Schweiz und die EU haben die gegenseitige Anerkennung ihrer Normen im bilateralen Vertrag über die technischen Handelshemmnisse geregelt. Ändert eine Seite ihre Normen, braucht es eine Aktualisierung im entsprechenden Bereich, welcher beide Seiten zustimmen müssen. Im Bereich der Medizintechnik verschärft die EU nun ihre Normen auf den 26. Mai 2020. Die Schweiz hat ihre eigenen Normen jenen der EU angepasst. Trotzdem weigert sich die EU, sie als gleichwertig zu anerkennen. Dies, weil sie unzufrieden ist mit den Fortschritten beim angestrebten Rahmenabkommen mit der Schweiz. Dieses Rahmenabkommen regelt unter anderem, wie die beiden Seiten künftig bei Konflikten vorgehen wollen und inwiefern die Schweiz Weiterentwicklungen des EU-Rechts übernehmen soll. Es geht um politisch sensible Bereiche wie den Lohnschutz oder staatliche Beihilfen. Das Abkommen ist darum in der Schweiz höchst umstritten und zurzeit blockiert. Der Bundesrat dürfte sich Ende Mai zum weiteren Vorgehen äussern.

Und dort, genauer in Deutschland, vollzieht die Firma eine Entwicklung, die in Widnau nicht sichtbar ist. Eine Entwicklung, mit der Geschäftsführer Müller das Problem mit dem EU-Markt für seine Firma lösen will.

Die Lösung liegt in Heidelberg

Müller steigt in sein postautogelbes Kleinauto, um uns seine Lösung zu zeigen. Rund fünf Stunden später befinden wir uns in Heidelberg. In einem Quartier, wo sich Häuschen an Häuschen reiht, eine ruhige, grüne Zone für Wohnen und Gewerbe. «Hier», sagt Müller zufrieden und zeigt auf eines der vielen Häuschen, «unsere neue Tochtergesellschaft!» Der Briefkasten trägt bereits den Firmennamen, unter der Klingel steht nur der Name eines Mannes: Frank Rieger.

Frank Rieger, ein Deutscher, ist seit zwei Jahren Entwicklungschef bei Bürki. Bei seinem Stellenantritt blieb er in Deutschland wohnen, arbeitete mal zu Hause, mal im St. Galler Rheintal. Nun ist er zum Partner aufgestiegen. Und baut seit letztem Herbst eine der zwei Wohnungen des Häuschens zu einer Niederlassung aus.

In zwei Laborräumen stehen Mikroskope, Dreh- und Bohrmaschinen, halb offene Prototypen von Maschinen für Augenoperationen, schlängeln sich Drähte und stapeln sich Plastikbehälter: Riegers neuer Arbeitsplatz. Hier treibt er Weiterentwicklungen voran. Zur Lösung von Müllers EU-Problem wird Rieger aber dadurch, dass er den EU-Behörden im Büro daneben jederzeit auch kompetent Auskunft geben könnte über die Bürki-Produkte. Er hat vollen Zugriff auf alle firmeninternen Daten und würde auch haften: Rieger wird zum sogenannten Bevollmächtigten der Firma im EU-Raum.

«Vorteile, die wir in der Schweiz nicht haben»

Bevollmächtigte verlangt die EU von Drittländern, wie es die Schweiz aller Voraussicht nach Ende Mai werden wird, wenn die Schweizer Medizintechnikbranche den freien Marktzugang verliert. Hinter der Bevollmächtigten-Vorschrift steckt ursprünglich die Absicht, dass sich Produzenten aus weniger stabilen Ländern wie zum Beispiel Pakistan nicht einfach absetzen können, wenn sie mangelhafte Produkte verkaufen, sondern in der EU zur Rechenschaft gezogen werden.

Bevollmächtigte müssen Zugang zu allen firmeninternen Informationen haben und rund um die Uhr erreichbar sein. «Das braucht mehrere zusätzliche Leute», sagte Geschäftsführer Müller noch vor einem Jahr, «das können wir uns nicht leisten.»

«Es droht eine schleichende Erosion der Schweizer Arbeitsplätze»

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Wie typisch ist der beschriebene Fall der Firma Bürki?

Sehr typisch, besonders für die kleinen und mittleren Unternehmen der Medizintechnikbranche - die grossen haben meistens bereits eine EU-Niederlassung. Die Unternehmen finden für sich eine Lösung. Das freut uns zwar, aber das darf keine Dauerlösung werden, denn es droht eine schleichende Erosion der Schweizer Arbeitsplätze. Das Ausland freut sich sehr über neue Stellen in dieser hochinnovativen Branche!

Die Unternehmen haben reagiert - also ist ein Rahmenabkommen für Ihre Branche gar nicht mehr so dringend?

Doch, wir kämpfen sehr für ein solches Rahmenabkommen. Die Unternehmen sollen zurückkommen und hier investieren können!

Ist das nicht eine Illusion? Die Investitionen sind getätigt.

Ich kann mir durchaus vorstellen, dass sie zurückkommen, wenn Rechtssicherheit herrscht. Wichtig ist aber auch, dass die Schweiz als Sitz-Standort für aussereuropäische Firmen interessant bleibt. Dafür braucht die Branche die Einbindung ins EU-System.

Nun leistet er es sich doch. «Ja, es war sehr teuer und auch juristisch sehr aufwändig», sagt Müller. «Aber es geht, weil wir in Heidelberg auch Vorteile haben, die wir in der Schweiz in dieser Form nicht haben.»

Welchen Vorteil Müller meint, zeigt sich zehn Autominuten von der Niederlassung entfernt, an der Universität Heidelberg. An den Universitäten und den Fachhochschulen der Region findet die Firma bestens ausgebildete Fachkräfte – für rund die Hälfte des Lohnes, den sie in der Schweiz bezahlen müsste.

Zwei von ihnen arbeiten bereits projektbezogen für Bürki, an neuen Computer-Arbeitsplätzen im oberen Stock der umgebauten Wohnung. Daneben stehen noch unausgepackte Kartons. Entwicklungschef Rieger will hier noch mehr Platz schaffen für ambitionierte Mitarbeiter, fünf fänden mindestens Platz.

«Produzieren in der Schweiz – solange es geht»

Mit der Niederlassung in Deutschland haben die Partner ihre Firma auch neu ausgerichtet. «Wir gewichten in der Firma nun die Entwicklung stärker», sagt Geschäftsführer Müller. «Dies geschieht hier in Heidelberg. Innovation, Zukunft: Das findet für uns nun in Deutschland statt.» Und in der Schweiz? «Da bleibt alles beim Alten. In der Schweiz produzieren wir weiter. Solange es noch geht.»

Hier haben wir einen Weg gefunden. In der Schweiz nicht.
Autor: Gianni Müller Geschäftsführer der Bürki innomed

Müller macht sich für ein Rahmenabkommen mit der EU stark. Wenn es eines Tages zustande kommen sollte, werde dies an der Niederlassung in Heidelberg aber nichts mehr ändern. «Die Investitionen sind getätigt, die Entscheide sind gefällt. Wir kommen mit diesem Teil der Firma nicht zurück», sagt Müller. «Das tut mir als Schweizer weh. Aber wir Unternehmer gehen wie das Wasser dort durch, wo wir einen Weg finden. Hier haben wir einen Weg gefunden. In der Schweiz nicht. »

10vor10, 17.2.2020

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