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Menschenhandel und Migration «Problematisch ist, dass sich nicht alle ausgenutzt fühlen»

Nur gerade 20 Franken für einen Besuch im Nagelstudio? Da kann etwas nicht stimmen. Wir müssten lernen, genauer hinzuschauen, sagt Alexander Ott, Chef der Fremdenpolizei Bern.

Menschenhandel wurde lange Zeit vor allem mit Prostitution in Verbindung gebracht. Er kommt aber auch in anderen Bereichen vor, etwa auf Baustellen, in der Landwirtschaft, in Restaurants, im Pflegebereich oder in Nagelstudios. In der Schweiz ist Menschenhandel weit stärker verbreitet, als man auf den ersten Blick vermuten würde. Alexander Ott vom Polizeiinspektorat der Stadt Bern erklärt, warum es wichtig ist, dass alle stärker auf das Thema sensibilisiert werden.

Alexander Ott

Co-Leiter Polizeiinspekorat Stadt Bern

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Alexander Ott ist seit 1990 in verschiedenen Funktionen bei der Stadt Bern in den Bereichen Einwohnerdienste, Migration und Fremdenpolizei (EMF). Er ist Vorsteher (Co-Leitung) des Polizeiinspektorats und Chef der Fremdenpolizei der Stadt Bern.

SRF News: Gibt es eine klare Definition von Menschenhandel?

Alexander Ott: So einfach ist das nicht. Grundsätzlich kann man sagen, dass Menschenhandel auch ein Migrationsthema ist. Menschen werden unter falschen Versprechungen in die Schweiz gelockt. Es gibt die sogenannten Palermo-Protokolle, die Elemente wie Anwerbung, Transport usw. klar definieren. Die Schweizer Gesetzgebung hingegen ist nicht so konkret, wie man meinen könnte. Die Grenzen zwischen schlechten Arbeitsbedingungen und Menschenhandel sind fliessend.

Palermo-Protokolle

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Die sogenannten Palermo-Protokolle stammen aus dem Jahr 2000 und schreiben das Verbot des Menschenhandels fest. Das Zusatzprotokoll (Palermo-Konvention) enthält zudem die international gültige Definition von Menschenhandel. Die Protokolle wurden von der Schweiz im Oktober 2006 ratifiziert und traten einen Monat später in Kraft.

Wann wird von Menschenhandel gesprochen?

Es gibt zwei Elemente: Zum einen wird Zwang ausgeübt. Den Menschen wird zum Beispiel Gewalt angedroht, wenn sie Anweisungen nicht Folge leisten. Auf der anderen Seite wird die Verletzlichkeit der Menschen ausgenutzt: Sie sind sozial isoliert und kennen sich in der Schweiz nicht aus. Es entsteht eine Abhängigkeit, die zu Ausbeutung führen kann.

Können Sie uns ein konkretes Beispiel schildern?

Vor einigen Wochen hat uns ein Fall in der Baubranche beschäftigt. Eine Gruppe von Männern, die in ihrem Heimatland keine Perspektiven hatten, wurde unter falschen Versprechungen in die Schweiz gelockt. Die Täter verlangten für den Vertrag und die Arbeitsbewilligung viel Geld von den Männern, obwohl sie aus dem EU-Raum kamen und keine Bewilligung nötig gewesen wäre.

Problematisch ist, dass sich nicht alle Menschen ausgenutzt fühlen.

Die Männer mussten sich darum bei den Tätern verschulden. In der Schweiz angekommen, mussten sie über 13 Stunden täglich auf Baustellen arbeiten und erhielten dafür nur rund 500 Franken im Monat. Durch die Verschuldung gerieten sie in eine Abhängigkeit und konnten nicht einfach in ihre Heimat zurück. Zudem wurde ihnen gesagt, sie seien illegal in der Schweiz, obwohl dies nicht der Fall war.

Nimmt der Menschenhandel in der Schweiz zu?

Ja, das hat mit dem Wohlstandsgefälle zwischen den Ländern zu tun. Je mehr die Perspektivlosigkeit in anderen Ländern zunimmt, desto mehr nimmt der Menschenhandel in der Schweiz zu, vor allem im Niedriglohnsegment. Problematisch ist, dass sich nicht alle Menschen ausgenutzt fühlen. Denn auch wenn ihre Situation in der Schweiz prekär ist, ist sie in manchen Fällen immer noch besser als in ihrem Herkunftsland.

Es geht nicht darum, zu denunzieren, sondern Missstände aufzudecken.

Was kann jeder Einzelne beitragen?

Eine der Hauptschwierigkeiten besteht darin, die Opfer zu erkennen. Dazu braucht es eine Sensibilisierungs­kampagne, damit die Bevölkerung hinschaut und sich bei der Polizei meldet, wenn etwas nicht stimmt. Es geht nicht darum, jemanden zu denunzieren, sondern Missstände aufzudecken. Nehmen wir das Beispiel Nagelstudio: Wenn jemand seine Dienste für 20 Franken anbietet, dann müssen bei uns die Alarmglocken läuten, denn da kann etwas nicht stimmen.

Das Gespräch führte Simone Hulliger, Mitarbeit Géraldine Jäggi.

Tagesgespräch, 16.10.2024, 13:00 Uhr ; 

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