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Minderjährige Transmenschen «Ohne Hilfe werden viele Jugendliche in der Pubertät suizidal»

Geboren im falschen Körper – oder wenn das biologische Geschlecht nicht mit dem eigenen Identitäts-Empfinden übereinstimmt. Früher wurde das meist als psychisches Problem verstanden, das therapiert gehörte – heute werde die Trans-Identität ernst genommen, erklärt Chefärztin Dagmar Pauli.

Dagmar Pauli

Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich

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Dagmar Pauli ist Psychiaterin und Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie der Universität Zürich und leitet dort die Sprechstunde für Geschlechtsidentität und Gendervarianz.

SRF News: Wenn das biologische und das seelische Geschlecht nicht übereinstimmen, spricht man von einer Transgender-Identität. Diese wird oft in der Pubertät zum Thema. Eine schwierige Zeit für eine so einschneidende Diagnose?

Dagmar Pauli: Die Pubertät ist für alle Jugendlichen eine schwierige Phase. Es gibt so viele Veränderungen, seelisch und körperlich, mit der Entwicklung der Sexualität. Für Transjugendliche sorgt diese Entwicklung für noch mehr Stress – für ein Gefühl des Fremdseins im eigenen Körper. Es gibt eine frühe Trans-Identität, die sich im Kindesalter abzeichnet – es gibt aber auch viele Fälle, wo die Person das Fremdsein erst in der Pubertät oder später ausdrückt oder es ihr selber erst später bewusst wird. Man kann das mit der Homosexualität vergleichen – auch wer ein spätes Coming-out hatte, ist ja deswegen nicht weniger «echt» homosexuell.

Warum nicht einfach zuwarten?

Die Pubertät schafft für trans Jugendliche einen enormen Leidensdruck. Viele werden in dieser Zeit suizidal, wenn sie keine Hilfe bekommen. Ausserdem prägt die Pubertät das äussere Erscheinungsbild für das spätere Leben – wenn dieses nicht mit dem seelischen Geschlecht übereinstimmt, schränkt das die Lebensqualität dauerhaft stark ein.

Laut Studien gibt es ein bis drei Prozent der Menschen, die ihre Geschlechtsangleichung später bereuen.
Autor: Dagmar Pauli Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich

Spätere Eingriffe sind schwerer. Darum gibt es die Möglichkeit, die Veränderungen – zum Beispiel den Stimmbruch oder das Wachsen der Brüste – mit sogenannten Pubertätsblockern hinauszuzögern, um Zeit zu gewinnen.

Können sich Minderjährige selber zu einer Behandlung entscheiden, notfalls ohne Einverständnis der Eltern?

Grundsätzlich ist das möglich. Es hängt davon ab, ob die Minderjährigen urteilsfähig sind – das schätzen die behandelnden Ärzte und Ärztinnen ein. Die Urteilsfähigkeit für medizinische Behandlungen richtet sich nicht nach dem Alter, sondern ist abhängig von der geistigen Reife und dem Thema. Ob die Einnahme von Hormonen der richtige Weg ist für eine Person, ist eine komplexe Frage.

Für die Jugendlichen ist die Unterstützung aus ihrem Umfeld sehr wichtig.
Autor: Dagmar Pauli Chefärztin an der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie Zürich

Reife Minderjährige sind hierfür urteilsfähig, dann können sie die Entscheidung rechtlich ohne Einverständnis der Eltern treffen. Bei allen werden aber die Eltern für den Entscheid einbezogen. Ihre Perspektive ist wichtig, aber sie müssen offen sein und nachfragen, um das Leiden ihrer Kinder zu verstehen. Für die Jugendlichen ist die Unterstützung aus ihrem Umfeld sehr wichtig.

Zur Geschlechtsangleichung werden auch Hormone verabreicht. Diese greifen stark in die Biologie ein.

Ja. Dank der Pubertätsblocker kann man mit den geschlechtsangleichenden Hormonen zuwarten. Ziel ist es, vor der Hormonabgabe mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit sagen zu können, dass die Person eine dauerhafte Transgender-Identität hat. Laut Studien bereuen ein bis drei Prozent der Menschen ihre Geschlechtsangleichung später. Pubertätsblocker sind reversibel. Auch wer Hormone eingenommen hat und sie wieder absetzt, kann noch Kinder bekommen – eine Garantie gibt es aber nicht. Einige Betroffene lassen Spermien oder Eizellen einfrieren. Die Einnahme von Hormonen ist keine Entscheidung, die leichtfertig getroffen werden darf. Man muss die Betroffenen auch über Nebenwirkungen aufklären, etwa ein erhöhtes Thromboserisiko.

Das Gespräch führte Felicie Notter.

10 vor 10, 20.07.2021, 21.50 Uhr ; 

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