72 Rednerinnen und Redner zählte die Tranktandenliste zur Beratung der Initiative «Für den Schutz fairer Löhne» im Nationalrat – eine wahre Monsterdebatte. Zwei Tage reichten nicht aus, um zu einer Entscheidung zu finden. Diese findet nun voraussichtlich nächste Woche statt. Ebenfalls noch ausstehend ist das Votum von Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann.
Was jetzt schon feststeht: Der Rat wird die Initiative aller Voraussicht nach ablehnen. Denn nur SP und Grüne sind dafür, Bürgerliche dagegen.
Die Linken stören sich besonders daran, dass viele Angestellte ihren Lohn durch Sozialhilfe aufbessern müssen, um davon leben zu können. Das sei unwürdig – und in der reichen Schweiz geradezu ein Hohn. Sie stören sich auch daran, dass vor allem Frauen zu den schlecht bezahlten gehören. Und dass gerade in den schlecht bezahlten Branchen ein GAV häufig fehle, der Mindestlöhne festlegen könnte.
Startups können oft nicht 4000 Franken bezahlen
Die Bürgerlichen wiederum argumentieren, gerade die tiefen Löhne würden Arbeitsplätze erhalten. Sie ermöglichten Jugendlichen und auch Schwächeren den Berufseinstieg. Der geforderte Mindestlohn von 4000 Franken pro Monat sei unverhältnismässig hoch im Vergleich zum Ausland und würde ausländische Arbeitskräfte anlocken. Viele Unternehmen in der Landwirtschaft, aber auch Startups, könnten mit einem Mindestlohn von 4000 Franken nicht überleben – das Erfolgsmodell Schweiz wäre in Gefahr.
«Sozialer Frieden trägt auch zum Erfolgsmodell Schweiz bei», hält Nationalrat Philipp Hadorn (SP/SO) zu Beginn der Debatte fest. Der Mindestlohn führe zu mehr Gerechtigkeit. Noch gebe es zahlreiche Unternehmen, die wesentlich tiefere Löhne als die geforderten 4000 Franken als «branchenüblich» bezeichneten. Es gebe auch zahlreiche Unternehmen, die sich weigerten, einen Gesamtarbeitsvertrag (GAV) in Kraft zu setzen.
Die Initiative attackiere das Erfolgsmodell Schweiz, hält Isabelle Moret (FDP/VD) dagegen. Moret führt dies am Beispiel von Startups aus, die oft nicht in der Lage seien, Löhne von 4000 Franken zu bezahlen. «Am Anfang ist oft kein Geld für Saläre vorhanden, sondern persönliche Opfer und Risikobereitschaft.» Die Initiative zerstöre den Nährboden der Schweizer Wirtschaft, die Innovation und die Bildung neuer kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU).
Herr Bundesrat, können Sie noch schlafen?
«Wie können Sie allen Ernstes eine Wirtschaft, die davon abhängt, dass sie unwürdige Löhne zahlen darf, als Erfolgsmodell bezeichnen?», fragt Jacqueline Fehr (SP/ZH). «Wieso lassen Sie zu, dass die prekären Löhne nicht zurückgehen?» Müsse man hier eingestehen, dass es mit der Selbstregulierung der Wirtschaft doch nicht so gut klappe?
«Es ist ein Skandal, wenn der Arbeitgeberpräsident erklärt, dass Löhne nicht existenzsichernd sein müssen», doppelt Margret Kiener Nellen (SP/BE) nach. «Es läuft nichts in Sachen Lohngleichheit für die Frauen. Der Lohngleichheitsdialog scheitert kläglich an zu kleinen Zahlen. Herr Bundesrat, können Sie noch schlafen?» Auch wegen der tiefen Löhne der Frauen brauche es die Mindestlohn-Initiative.
Christian Wasserfallen (FDP/BE) wiederum weist auf den geplanten Mindestlohn von 8.50 Euro in Deutschland hin. «Ausgerechnet die SP will den Druck auf den Arbeitsmarkt in grenznahen Regionen einführen. Ausgerechnet die SP will es in Kauf nehmen, dass keine Jobs mehr für Ungelernte und Attestausbildungen mehr angeboten werden. Ausgerechnet die SP will es in die Verfassung festschreiben, dass die Sozialpartnerschaft stirbt und ein für alle Mal durch die Verfassung ersetzt wird. Ich glaube, man muss die SP vor sich selbst schützen, indem man diese Initiative ablehnt.»
Griechische Rezepte und französische Verhältnisse
Noch deutlicher drückt sich Peter Keller (SVP/NW) aus. «Wenn wir heute über die Mindestlohn-Initiative reden, dann müssen wir den grösseren Zusammenhang miteinbeziehen. Die Linke will den Sozialismus total, weniger arbeiten, mehr Ferien, Steuern rauf, Politik auf Pump, staatlich festgesetzte Löhne und sogar ein Grundeinkommen fürs Nichtstun. Das sind alles griechische Rezepte und französische Verhältnisse.» Letztlich gehe es der Linken ums Geld – ums Geld der anderen.
Beat Jans (BS) und Matthias Aebischer (BE) von der SP argumentieren mit den guten Erfahrungen mit einem gesetzlichen Mindestlohn in anderen Ländern. Überdies hätten diese Länder oft auch eine grössere Verbreitung von Gesamtarbeitsverträgen. Dies stelle der Schweiz ein blamables Zeugnis aus. Zu den «Horrorszenarien», vor denen die Bürgerlichen bei der Einführung von Mindestlöhnen warnen, sagt Aebischer mit Blick auf die Erfahrungen im Ausland: «Fast alle Studien zeigen, dass die Arbeitslosenquote bei der Einführung oder Erhöhung des Mindestlohnes unverändert geblieben ist.»
Als einziger Redner scherte der Berner Nationalrat Alec von Graffenried aus, der
sich als Grüner auf die Seite der Gegner schlug.
Frühestens im Mai nächstes Jahr kommt die Initiative vors Volk. Anders als im Parlament scheint ein Ja an der Urne nicht ausgeschlossen: Gemäss ersten Umfragen stösst die Initiative auf Sympathie.