Nach dem Beinahe-Unfall eines Personenzugs im Juli in Unterterzen zeigt sich: Die unabhängige Sicherheitsuntersuchungsstelle (Sust) hatte nach vergleichbaren Fällen Massnahmen empfohlen, um zu verhindern, dass Züge auf belegte Gleise fahren können. Der Bund hat diese aber nur teilweise umgesetzt.
Bei dem Fall im Juli war ein Interregio der SOB von Zürich nach Chur unterwegs. Im Bahnhof Unterterzen wurde er auf ein Gleis geleitet, auf dem zwei Baumaschinen abgestellt waren. Das geht aus dem Vorbericht der Sust hervor.
Sicherheitsmechanismus kann übersteuert werden
Ob Gleise belegt sind, wird normalerweise technisch überwacht. In Unterterzen geschah dies mit einem sogenannten Achszähler. Fährt ein Waggon in einen Gleisabschnitt hinein, zählt der Zähler hoch, fährt der Waggon raus, zählt er runter. Wenn die Summe null ergibt, gilt das Gleis als frei.
Dieser Sicherheitsmechanismus kann aber – unter gewissen Bedingungen – von Hand übersteuert werden. Das als belegt gemeldete Gleis wird dann elektronisch frei gemacht. Nötig kann das etwa nach Bauarbeiten sein.
Um die Sicherheit dennoch zu gewährleisten, gibt es für diese Übersteuerung eine detaillierte Checkliste, welche die Beteiligten abarbeiten müssen. Unter anderem ist vorgeschrieben, dass der Sicherheitschef einer Baustelle vor Ort am Gleis eine Kontrolle durchführt.
Sust hat «Fahrt auf Sicht» empfohlen
Patrick Kupper von der Sust stellt aber fest, dass sich mitunter eine unsaubere Praxis zeige: «Gewisse Erwartungshaltungen oder Unsorgfältigkeiten führen dazu, dass man vielleicht nicht vor Ort kontrollieren geht, weil man dort keine Hindernisse auf dem Gleis vermutet.» Was in Unterterzen passiert sei, müsse die Untersuchung noch zeigen, so Kupper.
Bereits jetzt ist aber klar, dass es in der Vergangenheit vergleichbare Fälle gab:
- 2016, Sihlbrugg: Ein historischer Dampfzug fährt in abgestellte Schotterwagen. 20 Verletzte und hoher Sachschaden.
- 2017, Immensee SZ: Ein Personenzug fährt um ein Haar auf ein Unterhaltsfahrzeug auf.
- 2019, Thalwil ZH: Ein Personenzug bremst unmittelbar vor einem Bauzug.
Immer Teil des Problems war, dass der Achszähler von Hand zurückgestellt wurde. Nach dem letzten Fall, in Thalwil, gab die Sust eine Empfehlung heraus: «Das Bundesamt für Verkehr sollte prüfen, ob bei vorhandener Belegtmeldung durch die Sicherungsanlage immer für die erste Fahrt das gleiche Vorgehen, das Vorschreiben von Fahrt auf Sicht, angewendet werden soll.»
BAV setzt Empfehlung nur teilweise um
Die Idee: Wird das Sicherheitssystem übersteuert, soll der erste Zug in jedem Fall langsam durch die entsprechende Stelle fahren und im Notfall bremsen können. Das Bundesamt für Verkehr (BAV) hält fest, man habe die Empfehlung umgesetzt. Allerdings mit einer relevanten Ergänzung.
Die Langsamfahrt wird nicht in jedem Fall vorgeschrieben. Alternativ kann auch noch einmal zusätzlich vor Ort kontrolliert werden. Wird die Strecke dann freigegeben, kann das zulässige Tempo voll ausgefahren werden.
BAV-Sprecher Michael Müller sagt dazu: «Wenn das so eingehalten wird, sind wir überzeugt, dass es keine Differenz gibt zur Sust.» Der Bund stelle so das «gleiche Schutzniveau» sicher und erfülle dasselbe Ziel. Allerdings braucht es dann wieder eine zuverlässige Kontrolle der Mitarbeitenden an der Strecke. Der Beinahe-Unfall in Unterterzen lässt daran zweifeln, dass das immer der Fall ist.