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Nach Praxisänderung Keine IV-Renten für Depressive: Bundesgericht will reagieren

Aufgrund einer Praxisänderung des Bundesgerichts erhalten Depressive in der Schweiz momentan kaum noch IV-Renten. Nun geht eine breite Allianz von Psychiatern auf die Barrikaden. Und: Das Bundesgericht will die Praxis überprüfen.

Das Wichtigste in Kürze

  • Zurzeit bekommen Depressive in der Schweiz kaum noch IV-Renten.
  • Hintergrund ist eine Praxisänderung des Bundesgerichts: Depressive müssen «therapieresistent» sein, so das neue Kriterium.
  • Die Psychiater gehen nun aber auf die Barrikade, denn: Eine solche «Therapieresistenz» könne eine depressive Person kaum je erlangen.
  • Das Bundesgericht kündigt jedoch ein Umdenken an.

Menschen mit einer mittelschweren Depression erhalten in jüngster Zeit kaum noch IV-Renten. Entscheide des Bundesgerichts sind dafür verantwortlich. Hintergrund ist das neue Kriterium, dass eine depressive Person «therapieresistent» sein müsse, wie «10vor10» Mitte Juli berichtete.

Nun schlagen die Psychiater Alarm. Erich Seifritz, Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich, sagt, eine solche «Therapieresistenz» könne eine depressive Person kaum je erlangen: «Es gibt immer noch eine weitere Therapie – das kann 25 Jahre dauern. Das heisst, der Patient würde nie eine IV-Rente bekommen. Das ist nicht gerecht.» Wenn jemand hingegen ein Problem am Knie habe, kriege er nach einem Jahr eine Rente. «Das akzeptieren wir nicht», sagt Seifritz.

Es gibt immer noch eine weitere Therapie – das kann 25 Jahre dauern.
Autor: Erich Seifritz Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich

Deshalb mobilisieren die Spitzen der Schweizer Psychiater nun. Namentlich Professoren der Deutschschweizer Universitätskliniken und die vier massgebenden Fachgesellschaften, darunter die Schweizer Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie. In einem Artikel in der Fachzeitschrift «HAVE – Haftung und Versicherung», der «10vor10» vorliegt, kritisieren sie die Entscheide des Bundesgerichts.

Bei den Depressionen werden aus unserer Sicht medizinische Fragen von Juristen beantwortet.
Autor: Michael Liebrenz Leiter des forensisch-psychiatrischen Diensts der Universität Bern

Michael Liebrenz, Leiter des forensisch-psychiatrischen Diensts der Universität Bern, hat die Kritik aus der Fachwelt versammelt: «Bei den Depressionen werden aus unserer Sicht medizinische Fragen von Juristen beantwortet.» Die Experten schlagen konkrete Lösungen vor, wie man die «Therapieresistenz» juristisch und medizinisch sinnvoll definieren könnte.

Bundesgericht überprüft Praxis

Konfrontiert mit der Kritik, kommt von Seiten des Bundesgerichts eine erstaunliche Stellungnahme. Die sich sonst zurückhaltend äussernde Instanz deutet ein Umdenken an: «Die Thematik wird gegenwärtig vom Bundesgericht überprüft. Die Frage wird in einem späteren Urteil des Bundesgerichts behandelt.» Das könnte durchaus bedeuten, dass das Bundesgericht seine Praxis bald wieder ändert.

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