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Offener Brief an Bundesrätin Bund soll Umgang mit Fahrenden als kulturellen Genozid anerkennen

  • Fahrende fordern in einem offenen Brief an Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider, die Schweiz solle die Aktion «Kinder der Landstrasse» als kulturellen Genozid verurteilen.
  • Bei der Aktion nahm die Stiftung Pro Juventute Schweizer Jenischen und Sinti die Kinder weg. Zudem sterilisierte und internierte die Schweiz Angehörige dieser Minderheit.
  • Es gibt schätzungsweise rund 2000 betroffene Kinder.

Die bundesnahe Stiftung Pro Juventute nahm bei der Aktion «Kinder der Landstrasse» Schweizer Jenischen und Sinti die Kinder weg und zerriss so Familien. Schätzungsweise gibt es 2000 betroffene Kinder, die Zahl ist unklar. Die offizielle Schweiz verfolgte Jenische und Sinti zudem in vielfältiger Weise, etwa durch die Internierung wegen «Vaganität».

Im offenen Brief an die Innenministerin fordern jenische Organisationen und Persönlichkeiten die Verurteilung von «Kinder der Landstrasse» als kulturellen Genozid an Jenischen und Sinti. Trotz erfolgter Entschuldigung und Entschädigung müsse dieser Schritt erfolgen, wolle die Schweiz zu ihren Taten stehen.

Wohnmobile und Camper von Fahrenden auf einer Wiese.
Legende: Fahrende in der Schweiz fordern politische Anerkennung. Keystone / Salvatore Di Nolfi

Zu den Opfern würden nicht nur die direkt Betroffenen gehören, sondern deren Nachkommen, Angehörige, Familien und das ganze Volk der Jenischen und Sinti. Unterzeichnet haben den offenen Brief die Radgenossenschaft der Landstrasse (Dachorganisation der schweizerischen Jenischen und Sinti), die transnationalen Organisation Schäft Qwant und die Westschweizer Organisation Jenisch-Manisch-Sinti.

Geschichte des Programms «Kinder der Landstrasse»

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Schwarzweiss Bild von Menschen vor Wohnwagen.
Legende: Fahrende wurden zwischen 1926 und 1972 teilweise interniert. Keystone

Zwischen 1926 und 1972 finanzierte und führte die private Fürsorgestiftung «Pro Juventute» ein Programm zur Umerziehung fahrender oder jenischer Kinder in der Schweiz durch, wie das Schweizerische Bundesarchiv schreibt. Die Stiftung richtete dazu das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» ein. Umerziehung bedeutete, dass die Kinder und Jugendlichen ihren Familien weggenommen und in Heimen oder bei Pflegeeltern versorgt wurden. Häufig kamen vormundschaftliche Massnahmen zur Anwendung: Den Eltern wurde die elterliche Gewalt entzogen, um die Kinder kümmerte sich ein Vormund. In der Zwischenkriegszeit wurden in der Schweiz viele Kinder fremdplatziert, bei den jenischen Familien geschah dies systematisch. Viele «Kinder der Landstrasse» und auch deren Eltern wurden in Arbeitserziehungs- und Strafanstalten oder in psychiatrische Kliniken gesteckt.

Bund, Kantone und Gemeinden sowie Fürsorgeinstitutionen, Heime und Privatpersonen duldeten und unterstützten dieses Programm. Zwar gab es vereinzelt Kritik oder Widerstand. Aber erst eine Kampagne der Zeitschrift «Schweizerischer Beobachter» führte 1973 zur Auflösung des «Hilfswerks». Seither kämpfen Betroffene und deren Angehörigen um Wiedergutmachung und um die Anerkennung der Anliegen der Fahrenden. 1986 entschuldigte sich Bundespräsident Alphons Egli bei den Betroffenen für die Unterstützung, die der Bund dem «Hilfswerk» gewährt hatte.

SRF 4 News, 22.01.2024, 16:00 Uhr ; 

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