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Operation bei Intersexualität Operationsverbot bei Säuglingen ohne eindeutiges Geschlecht?

Zwischen den 1960er-Jahren und dem Ende des 20. Jahrhunderts wurden intergeschlechtliche Kinder operiert und hormonell behandelt, um sie einem Geschlecht zuzuweisen. Heute ist man zurückhaltender. Warum fordern Betroffene trotzdem ein strafrechtliches Verbot jeglicher geschlechtsverändernder Eingriffe? Antworten von SRF-Gerichtskorrespondentin Sibilla Bondolfi.

Sibilla Bondolfi

Gerichtskorrespondentin

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Sibilla Bondolfi ist seit 2023 Gerichtskorrespondentin von Radio SRF. Davor hat sie für den zehnsprachigen Online-Dienst Swissinfo gearbeitet. Sie ist promovierte Juristin im Bereich Verfassungsrecht und Menschenrechte.

Was ist Intergeschlechtlichkeit?

Manche Kinder werden mit Geschlechtsvarianten geboren. Sie sind also genetisch, hormonell oder anatomisch weder Junge noch Mädchen. Das ist nicht zu verwechseln mit non-binären Menschen, die sich nicht ausschliesslich als männlich oder weiblich fühlen. Nur ein kleiner Teil der intergeschlechtlichen Menschen ist zusätzlich non-binär, die meisten identifizieren sich klar als Mann oder Frau.

Warum werden Kinder operiert?

Früher hat man intergeschlechtliche Kinder ohne medizinische Notwendigkeit operiert und hormonell behandelt, einfach, um sie in das Schema weiblich oder männlich einteilen zu können. Da es chirurgisch einfacher ist, eine Vagina zu formen als einen Penis, wurden die Kinder meist zu Mädchen operiert. Für viele Betroffene waren die Eingriffe traumatisch: Sie fühlten sich teils dem falschen Geschlecht zugewiesen und genital verstümmelt. Manche konnten wegen der Behandlungen keine Kinder mehr kriegen.

Heute ist man zurückhaltender. Manchmal operiert man ein Kind, damit es urinieren kann, um Krebs zu verhindern oder um die Fruchtbarkeit zu erhalten. In seltenen Fällen ist ein Eingriff sogar lebensnotwendig. Das Kinderspital Zürich berücksichtigt nach eigenen Angaben aber nicht nur medizinische Aspekte, sondern auch psychische und soziale.

Warum fordern Betroffene ein Verbot?

Laut InterAction, einem Verein für intergeschlechtliche Menschen, werden noch immer auch unnötige Eingriffe vorgenommen. Während dies für Deutschland durch eine wissenschaftliche Untersuchung belegt ist, fehlen für die Schweiz konkrete Daten. Nach Angaben des Kinderspitals Zürich werden jährlich 85 bis 135 Genitaloperationen an Kindern mit Varianten der Geschlechtsentwicklung durchgeführt.

Die Rechtskommission des Ständerats befasst sich aktuell mit einer Motion, die geschlechtsverändernde Eingriffe an Kindern strafrechtlich verbieten will. Diese führten teilweise zu Traumatisierungen und gesundheitlichen Folgen wie Osteoporose oder zum Verlust der Fortpflanzungsfähigkeit. Auch die Nationale Ethikkommission und UNO-Ausschüsse empfehlen, auf Korrekturen des äusseren Genitales im Säuglingsalter zu verzichten. Solche Behandlungen sollten laut InterAction verschoben werden, bis das Kind selbst darüber entscheiden kann.

Wie ist die Rechtslage heute?

Bereits heute sind irreversible geschlechtsverändernde Eingriffe an Genitalien von kleinen Kindern unter Strafe gestellt. Die Eltern können für ihre urteilsunfähigen Kinder nicht rechtsgültig in solche Behandlungen einwilligen. Auch Hormonbehandlungen dürfen nur in Ausnahmefällen durchgeführt werden, wenn dies dem Kindeswohl entspricht. Ohne gültige Einwilligung machen sich die behandelnden Ärztinnen und Ärzte einer schweren Körperverletzung strafbar.

Erlaubt sind hingegen Eingriffe, wenn eine Gefahr für das Leben oder die Gesundheit des Kindes besteht. Allerdings ist nicht eindeutig geklärt, welche Eingriffe medizinisch notwendig sind und welche nicht. Es gibt zwar ärztliche Empfehlungen, aber das Thema ist aufgrund der vielen verschiedenen Geschlechtsvarianten komplex und es gibt bisher keine Gerichtspraxis. Eine rechtliche Klärung wäre deshalb laut Experten und Expertinnen wünschenswert. Ob das Strafrecht das richtige Mittel ist, darüber gehen die Meinungen jedoch auseinander.

Echo der Zeit, 27.06.2023, 18:00 Uhr ; 

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