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Osteoporose-Therapie Hoffnungsträger mit Schattenseiten

«Prolia» erhöht die Knochendichte wirksam. Die Risiken und Nebenwirkungen sind aber nicht zu unterschätzen.

Eine halbe Million Menschen – vornehmlich Frauen – leidet in der Schweiz unter Osteoporose. Ohne Behandlung führt der laufende Schwund an Knochensubstanz zu Schmerz und Brüchen.

Lange waren Bisphosphonate der Standard in der Therapie. Vor gut sieben Jahren kam dann ein neuer Hoffnungsträger auf den Markt: Prolia. Mit dem Medikament lassen sich nicht nur aussergewöhnliche Resultate erzielen, die Verabreichung in Form einer halbjährlichen Spritze erleichtert den Patientinnen und Patienten auch die Therapietreue erheblich.

Rund 35'000 Mal pro Jahr wird Prolia in der Schweiz eingesetzt. Das spricht für Wirksamkeit und Beliebtheit des «Wundermittels». Es hat aber auch seine Schattenseiten – die reichlich spät erkannt und kommuniziert wurden. Für manche zu spät.

Zum Beispiel für Pierrette Miletto. Ihre Leidensgeschichte begann Anfang 2011 mit der Diagnose «schwere Osteoporose». Prolia, mit vielen Vorschusslorbeeren gerade auf den Markt gekommen, sollte den angegriffenen Knochen zu neuer Stabilität verhelfen.

Die Therapie brachte den erhofften Erfolg. Nach einigen Jahren entschied Milettos Arzt, dass sie quasi geheilt sei und man die Therapie nun stoppen könne. Ende 2014 erhielt sie die letzte Spritze.

Im Sommer 2015 liess die Wirkung nicht einfach nur nach – alles wurde schlimmer als zuvor.

Elf Wirbelbrüche später schluckt die heute 58-Jährige jeden Morgen Schmerztabletten. Ohne diese könnte sie kaum aufrecht stehen, geschweige denn längere Strecken gehen.

Auch Claudine Martin weiss, was Schmerzen sind. Ebenfalls 2011 begann sie mit Prolia-Spritzen zur Osteoporose-Behandlung. Die zweite Injektion war bereits die letzte, weil sie das Medikament nicht gut vertrug.

Das Schlimmste kam dann aber erst. «Ich hatte immer stärkere Schmerzen, bekam Probleme beim Laufen. Schmerzen im Becken, in der Leistengegend... Ende Februar war es der reine Horror», erinnert sich Claudine Martin.

Zunächst heisst es, die Schmerzen seien muskulärer Natur. Als es nicht besser wurde, tippte der Hausarzt auf einen Hexenschuss, der dann schon vorübergehe.

Claudine Martin wurde nicht ernst genommen. Zu dem Zeitpunkt tappte die medizinische Welt noch im Dunkeln. Ihre gebrochenen Wirbel blieben lange unentdeckt.

Prolia wird nicht nur bei Osteoporose verschrieben. Es kommt auch präventiv zum Einsatz bei Krebserkrankungen, wo Medikamente die Knochen angreifen – zum Beispiel bei Brustkrebs.

Für Claire-Lise Lecomte war Osteoporose nie ein Thema. Mit 59 Jahren waren ihre Knochen in einem guten Zustand. Als bei ihr 2009 Brustkrebs festgestellt wurde, erhielt sie vorbeugend alle sechs Monate Prolia gespritzt. «2012 hat der Arzt gemeint, dass meine Knochen in einem ausserordentlich guten Zustand seien. Besser als vorher sogar.» Man könne mit der Behandlung aufhören.

Auch hier machten sich nach dem Absetzen rasch schreckliche Rückenschmerzen bemerkbar. Ein MRI zeigte den Grund: Keine Metastasen, aber fünf gebrochene Wirbel.

Nach der Trauer wurde ich wütend auf die Pharma-Firmen. Wie können die nur so ein Medikament auf den Markt bringen?

«Erst war ich bloss erleichtert, keine Metastasen zu haben», erinnert sich Lecomte. Dann habe sie realisiert, dass in ihrem Leben nichts mehr sein würde wie zuvor. «Nach der Trauer wurde ich wütend auf die Pharma-Firmen. Wie können die nur so ein Medikament auf den Markt bringen?»

Tatsächlich ist Prolia weltweit zur Osteoporose-Prävention bei Brustkrebs-Therapien zugelassen. Von den möglichen Folgen einer Einnahme war damals keine Rede.

Pharmacovigilance

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Dass ein Medikament nach der Zulassung unerwartete Nebenwirkungen zeigt, ist nicht ungewöhnlich.

Während der Entwicklung werden Wirksamkeit und Sicherheit an wenigen Tausend streng selektionierten Probanden getestet.

Nach Markteinführung wird das Medikament von viel mehr Menschen mit ganz unterschiedlichen Vorbelastungen genutzt. Nun können Nebenwirkungen in den Vordergrund rücken, die bei der Entwicklung kaum von Bedeutung waren.

In der täglichen Praxis beobachtete unerwünschte Wirkungen müssen von medizinischen Fachpersonen und Pharmafirmen zwingend dem nationalen Pharmacovigilance -Zentrum von Swissmedic gemeldet werden, damit bisher unerkannte Risiken aufgedeckt und angegangen werden können.

Den Zusammenhang zwischen den Brüchen und dem Absetzen von Prolia erkannten Spezialisten für Knochenkrankheiten wie Olivier Lamy, Professor am Zentrum für Knochenkrankheiten des CHUV : «Im Sommer 2015 schöpften wir langsam Verdacht, dass das eine dramatische Nebenwirkung sein könnte. Mit der Zeit haben wir realisiert, dass hier irgend etwas Abnormales passiert.»

Hierzulande dauert es bis 2017, bis Fachinformation und Packungsbeilage angepasst werden und die Risiken im Zusammenhang mit dem Absetzen von Prolia besser hervorgehoben werden. Eine späte, aber mutige Entscheidung. In ganz Europa steht die Schweiz damit alleine da.

Bis heute sind rund 110 Fälle mit mehrfachen Wirbelbrüchen nach Absetzen von Prolia bekannt. Auf das tatsächliche Risiko angesprochen, meint Rudolf Stoller von Swissmedic : «Wenn ich mich auf das beziehe, was heute in den Produkteinformationen steht, dann ist das Risiko um oder unter 1 Prozent. Also ein gelegentlicher Nebeneffekt. Meiner Meinung nach deuten die Erkenntnisse aber eher darauf hin, dass es mehr in Richtung ‹häufiges Risiko› geht, wo noch weitere Massnahmen erforderlich sein werden.»

Daniel Aeberli

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PD Dr. Daniel Aeberli ist Rheumatologe und Leiter Osteoimmunologie an der Universitätsklinik für Rheumatologie, Immunologie und Allergologie des Inselspitals Bern.

SRF: Herr Aeberli, was lösen die Schicksale von Pierrette Miletto, Claudine Martin und Claire-Lise Lecomte bei Ihnen aus?

Daniel Aeberli: Das macht mich sehr betroffen. Es ist schon ungewöhnlich, dass man ein Medikament gibt, das die Knochendichte verbessern soll und es dann nach dem Absetzen zu Wirbelbrüchen auf mehreren Ebenen kommt. Das entspricht natürlich in keiner Weise dem, was man sich als Arzt wünscht.

Wie kommt es denn zu diesen heftigen Neben- und Nachwirkungen?

Prolia hemmt die Bildung, Reifung und Funktion der knochenabbauenden Zellen, der Osteoklasten. Sobald Prolia nicht mehr wirkt, setzt der Prozess wieder ein – stärker als zuvor. Man kann sich das wie Mäuse vorstellen, die nicht an den Käse unter einer Käseglocke herankommen. Wird sie angehoben, fallen die Mäuse in Scharen über den Käse her und fressen ihn innert Kürze auf.

Heisst: Die Funktion der Osteoklasten ist nach dem Absetzen von Prolia so stark, dass innerhalb weniger Monate ein Therapieerfolg von mehreren Jahren zunichte gemacht wird.

Wieso lässt man die «Käseglocke» dann nicht einfach dauernd drauf?

Das wurde bereits versucht. Es hat sich aber gezeigt, dass es mit der Zeit zu Kiefernekrosen kommt – toten Knochen im Kieferbereich – und zu Oberschenkelschaftbrüchen aus geringstem Anlass. Die Knochen waren derart mineralisiert und zementartig aufgefüllt, dass schon kleinste Traumen zu Brüchen führten.

Das dauerhafte Stilllegen der knochenabbauenden Osteoklasten lässt das Knochendichtependel quasi ins andere Extrem ausschlagen. Während die Knochen bei einer Osteoporose wegen der nachlassenden Dichte anfällig für Brüche werden, führt die übermässige Verdichtung des Knochenmaterials zum selben Effekt wegen nachlassender Elastizität.

Rebound-Effekt

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Prolia versetzt die Zellen, die die Knochensubstanz angreifen, in eine Art Schlaf. Wird das Medikament abgesetzt, erwachen die Fresszellen wieder und nehmen ihre zerstörerische Wirkung wieder auf – manchmal sogar aggressiver als vorher. Einen solchen Vorgang bezeichnet man in der Medizin als «Rebound-Effekt».

Was kann also getan werden?

Aufgrund der gemachten Erfahrungen ist eine Osteoporose-Therapie in der Regel auf drei bis maximal fünf Jahre begrenzt. Eine längere Therapie muss gut begründet sein. Beispielsweise, wenn zu Beginn der Behandlung eine sehr tiefe Knochendichte vorliegt, zahlreiche Wirbelkörperfrakturen vorbestehen, ein hohes Frakturrisiko besteht, die Therapie ungenügend anspricht oder es während der Therapie sogar zu neuen Frakturen kommt.

Bei Prolia ist es dann wichtig, das Absetzen zu begleiten. Um beim Mäuse-Bild zu bleiben: Der Käse muss vor dem Anheben der Käseglocke und noch ein Zeitchen danach so behandelt werden, dass die Mäuse keine besondere Lust auf ihn haben.

Das wird mit Bisphosphonat gemacht. Wann und in welcher Form es am besten verabreicht wird, ist noch Gegenstand der Untersuchungen. Es braucht aber auf jeden Fall eine Begleittherapie beim Absetzen von Prolia.

Diese sogenannte «sequenzielle Therapie» wird aber nicht automatisch von der Krankenkasse bezahlt.

Das stimmt. Wenn die Knochendichte-Messung nach einer Prolia-Therapie eine Osteopenie oder gar normale Knochendichte ergibt, besteht die klassische Indikation für verschiedene Bisphosphonate nicht mehr. Man gilt zu diesem Zeitpunkt als «gesund». Übernimmt eine Kasse die aus medizinischer Sicht nötige präventive Gabe von Bisphoshponaten dennoch, tut sie dies aus reiner Kulanz.

Es lohnt sich also, vor Therapiebeginn eine Kostengutsprache einzuholen. Zum Beispiel für drei Jahre Prolia, gefolgt von drei Jahren Aclasta

Professor Lamy spricht sich dagegen aus, Prolia in der Brustkrebstherapie prophylaktisch einzusetzen. Einverstanden?

Ich bin zurückhaltend in der Abgabe von Prolia. Aber ich denke, wenn Arzt und Patientin über die Risiken gründlich im Bild sind und man Bisphosphonate dazu gibt, ist das schon eine gute Option.

Wer für Prolia nicht in Frage kommt, kann aktuell einzig auf Bisphosphonat in Form von Wochentabletten ausweichen. Das hat aber auch Nachteile: Die Einnahme ist umständlicher, und die Medikamente machen oft Magen-Darm-Beschwerden.

Ihr Fazit zu Prolia?

Ein gutes Medikament mit hoher Wirkung. Aber man muss es korrekt anwenden – und vor allem korrekt absetzen.

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