Wenn hochrangige Entscheidungsträger gegen Regeln verstossen, hat dies einen öffentlichen Aufschrei zur Folge, wie sich etwa beim Fehlverhalten des politischen Beraters von Premierminister Boris Johnson in Grossbritannien zeigte. Warum Bürgerinnen und Bürger so heftig reagieren, sagt Politphilosophin Katja Gentinetta.
SRF News: Gelten während der Pandemie für normale Bürger andere Standards als für die Classe Politique?
Katja Gentinetta: Die Pandemie fordert neue Verhaltensregeln von allen. Als Bürgerinnen und Bürger müssen wir davon ausgehen, dass die Politik solche Verhaltensregeln verlangt, weil sie ihr von der Medizin angeraten werden.
Es gibt Regeln, die empfohlen werden, und es gibt Verbote.
Wenn sich Politiker nicht daran halten, muss ich mich als Bürgerin fragen, was jetzt gilt. Muss nur ich mich daranhalten, aber sie nicht? Oder ist das nur ein Vorwand, um die Zahlen einzudämmen? Es lässt mich ratlos zurück.
Viele lässt es auch verärgert zurück. Weshalb der Aufruhr?
Es ist eine zweischneidige Sache. Es gibt Regeln, die empfohlen werden, und es gibt Verbote. Bei einer Empfehlung bin ich in meiner Eigenverantwortung gefragt. In der Schweiz hat der Bundesrat von Anfang an gesagt, er wolle nicht im Detail vorschreiben, ob man zu zweit im Auto fahren dürfe oder nicht, sondern er appellierte an die Eigenverantwortung.
Das eine bedeutet, dass man den Bürgern vertraut, das andere – die gesetzliche Verordnung – bedeutet, dass man es kontrollieren muss. In beiden Fällen ist es schwierig, wenn sich Politiker nicht dran halten.
Im Falle des Verbots muss ich denken, dass das Verbot für sie nicht gelte. Im Falle der Empfehlung heisst es, dass man die Eigenverantwortung auch selbst grosszügiger interpretiert und nachlässiger wird.
Von uns wird erwartet, dass wir Rücksicht nehmen, also können wir das auch von den anderen erwarten.
Dass Politiker gegen Regeln verstossen, ist nicht neu. Wird es emotionaler diskutiert als auch schon?
Früher hat man sich auch schon ereifert. Dass wir emotionaler diskutieren, hat damit zu tun, dass wir uns in einer Pandemie mit potenziell tödlichen Folgen befinden. Von uns wird erwartet, dass wir Rücksicht nehmen, also können wir das auch von den anderen erwarten.
Kontrollieren wir das Verhalten der anderen mehr als sonst?
Wenn wir an den Anfang des Ausnahmezustandes zurückdenken, war ich überrascht, dass man mit dieser Ermahnung sehr grosszügig umgegangen ist. Ich habe mich aus der Perspektive darüber geärgert, dass man sagen kann, wir haben in unserer Demokratie alle Freiheiten. Und wenn wir mal aufgefordert werden, auf die Freiheiten zu verzichten, dann sollten wir uns daran halten. Das ist die Verantwortung, die zu unserer Freiheit gehört. Dass wir alle beobachten – natürlich tun wir das – heisst aber nicht, dass wir schon in einem Spitzelstaat sind.
Kommt ein neuer Moralismus, oder eine Art Hypermoral?
Von einer Hypermoral oder einem neuen Moralismus würde ich nicht sprechen, weil ich es nicht als moralisch anschaue, sich an die Abstandsregeln zu halten oder eine Gesichtsmaske zu tragen. Es sind nicht Anstandsregeln, es sind Verhaltensregeln zugunsten unserer Gesundheit.
Zusammengefasst: Insgesamt gelten für Politikerinnen und Politiker nicht andere Verhaltensregeln?
Ja, es gelten die gleichen Standards. Ich habe jedes Verständnis für Politiker, die im Verlauf der Pandemie aufgrund des vorhandenen Wissens entschieden haben. Auf der anderen Seite weiss jeder Politiker, wenn er unvorsichtig wäre und es herauskäme, dass er fahrlässig gehandelt hat, dann gäbe dies eine grosse Aufregung. Ich glaube nicht, dass wir einem neuen Moralismus verfallen.
Das Gespräch führte Teresa Delgado.