Lokführer Marjan Klatt ist mit seinen 30 Dienstjahren ein SBB-Urgestein. Der 55-jährige hat schon als Bub mit dem Beruf des Lokführers «geliebäugelt», wie er sagt. Nach einer abgeschlossenen Lehre als Schlosser hat er sich zum Lokomotivführer bei der SBB ausbilden lassen.
«Als ich in den 90er-Jahren zur Bahn kam, war das ein fast militärisch geführter Staatsbetrieb», sagt Klatt. Man habe nach Auftrag produziert und am Ende des Jahres das Defizit vom Bund abgeholt, sagt Klatt während wir mit ihm mit dem Interregio von Luzern nach Zürich fahren.
Heute sei vieles anders. Gerade der Beruf des Lokführers habe sich stark verändert, sagt Klatt der auch Gewerkschafter ist. Er ist im Vorstand des Lokführerpersonalverbandes der Bahngewerkschaft SEV.
Sparen beim Personal
Mit dem Umbau der SBB in den 1990er-Jahren vom defizitären Staatsbetrieb zu einer Aktiengesellschaft wurde das Unternehmen auf Gewinn getrimmt. Die Folge aus Sicht des Gewerkschafters: «Man sparte beim Personal.»
Die Lokführer-Ausbildung beispielsweise wurde kürzer und eintöniger. Früher habe ein Lokführer sämtliche Lokomotiv-Typen gefahren und sowohl Personen- wie auch Güterverkehrszüge gesteuert. Dies wurde immer mehr eingeschränkt. Es sei sogar so weit gegangen, dass ein Lokführer nur noch für ein Fahrzeug und eine Strecke ausgebildet worden sei, so Klatt.
So waren die Lokführer zwar schneller ausgebildet, dafür nicht flexibel einsetzbar. Dies habe den einstigen Traumberuf Lokführer eintöniger und langweiliger gemacht. Es wurde zunehmend schwieriger, Lokführer zu finden, die der SBB über Jahre treu blieben. Die Fluktuation wurde immer grösser.
Die Folge dieser Ausbildungspolitik bekamen die Bahnkunden im letzten Herbst hautnah zu spüren: Weil zu wenig Lokführerinnen und Lokführer zur Verfügung standen, mussten quasi über Nacht 200 Züge täglich gestrichen werden. Das hat auch die SBB-Angestellten selbst überrascht und schockiert.
«Das hat jedem Lokführer im Herzen weh getan, dass man hier Leistungen nicht hat erbringen können. Das ist ziemlich eingefahren», sagt Klatt stellvertretend für die Lokführergilde.
Auch die SBB hat das Problem erkannt – schon vor dem Supergau im Herbst. Bei Amtsantritt im Frühling 2020 hatte der neue SBB-Chef Vincent Ducrot angekündigt, eine Ausbildungsoffensive zu lancieren, um den permanenten Unterbestand an Lokführern zu decken. Die Corona-Pandemie verschärfte dann aber das Problem massiv. Wegen des Virus mussten im Frühling SBB-Ausbildungskurse sistiert werden, was dann zum Personal-Supergau im Herbst führte.
Lokführerausbildungsklassen überrannt
Die Corona-Krise setzt der SBB arg zu. Die Auslastung im Fernverkehr ist teilweise um 50 Prozent eingebrochen, viele Züge verkehren auch in den Hauptverkehrszeiten halb leer.
Aber die Pandemie sorgte auch für einen positiven Effekt. Der Lokführerberuf wurde plötzlich wieder attraktiv. Die Ausbildungsklassen werden seit der Pandemie regelrecht überrannt. Allein im Januar gingen bei der SBB gegen 1000 Bewerbungen für den Lokführerberuf ein. 321 Personen befänden sich derzeit in Ausbildung. Dies sei ein Rekord, sagt Claudio Pellettieri, Leiter der Zugführung beim SBB-Personenverkehr. Bis im Sommer seien alle Ausbildungsklassen ausgebucht.
Ein Job bei der SBB gilt plötzlich als krisensicher. Unter dem Lokführernachwuchs befinden sich beispielsweise auch Piloten. Denn im Gegensatz zu den Fliegern, fahren die Züge auch in der Corona-Krise nach Fahrplan.
Aktuell würden noch etwa 70 Lokführer fehlen, bis Ende Jahr sei diese Lücke aber gestopft, gibt sich Pellettieri zuversichtlich. Für die nächsten zwei Jahre plane die SBB sogar mit einem Personalüberbestand. So solle die über Jahre bei den rund 3600 Lokführern angehäufte Überzeit abgebaut werden, sagt Pellettieri.
Und ein weiterer Wunsch von Lokomotivführer Klatt geht auch in Erfüllung. Künftig werden die angehenden Lokführerinnen und Lokführer wieder vielschichtiger ausgebildet. Das heisst, sie sollen wieder verschiedene Lokomotiven fahren und auf verschiedenen Strecken eingesetzt werden können.
Die SBB ist auch ein Immobiliengigant
Auf unserer Fahrt mit Lokführer Marjan Klatt treffen wir in Zürich ein. Der Zug fährt am Hauptstellwerk vorbei – der Betonklotz mit den grossen weissen Buchstaben «Zürich» und der Uhr auf blauem Grund ist ein Markenzeichen des Bahnhofs Zürich oder vielleicht eher – war ein Markenzeichen.
Noch vor wenigen Jahren sei dies ein markantes Gebäude gewesen, sagt Klatt. Heute müsse man es fast suchen. Er zeigt auf die Hochhäuser aus Glas und Beton, welche in den letzten Jahren rund um das Stellewerk wie Pilze aus dem Boden geschossen sind. Alles Gebäude die auf SBB-Land gebaut wurden. Klatt tönt etwas wehmütig.
In der Tat ist die Sparte Immobilien für die SBB mittlerweile die einträglichste geworden. Dabei macht die SBB nicht nur mit Ladenvermietungen und Events in den Bahnhöfen gutes Geld, sondern sie ist auch ausserhalb der Bahnhofsmauern zu einem Immobiliengiganten geworden. In den Jahren 2018 und 2019 hat sie in der Sparte Immobilien einen Ertrag von rund 340 Millionen Franken erwirtschaftet.
Das Unternehmen hat bereits vor Jahren begonnen, aus den stillgelegten Geleisebrachen rund um die Bahnhöfe – an bester Lage also – Geld zu verdienen.
Mit dem Gewinn aus den Immobilien saniert die SBB die marode Pensionskasse und steckt Millionen von Franken in die Infrastruktur. Das weiss auch Marjan Klatt. Trotzdem sagt er: «In der 13-jährigen Ära von Andreas Meyer hatte man das Gefühl, dass die Mitarbeitenden vernachlässigt wurden.» Alles Andere schien eine höhere Priorität zu haben als das Personal.
Zurück zu den Wurzeln
Klatt, wie auch viele andere SBB-Mitarbeitende, setzt nun auf den neuen SBB-Chef. Vincent Ducrot ist angetreten mit dem Versprechen, sich wieder auf das Kerngeschäft zu konzentrieren. Die SBB sei in erster Linie Eisenbahn, sagte der Freiburger in seiner 100-Tage-Bilanz im letzten Sommer.
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Prioritär will er neben dem Personalproblem die Pünktlichkeit verbessern. Auch will Ducrot wieder vermehrt auf Nachtzüge setzen. Diese hat die SBB erst vor wenigen Jahren aufgegeben mit dem Argument, das rentiere sich nicht mehr, die Nachfrage sei nicht mehr da. Nicht zuletzt aufgrund der Klimawandeldiskussion gibt es plötzlich wieder einen Run auf Nachtzüge.
Wer heute Lokführer wird, kann auf diesem Beruf noch pensioniert werden.
Hier hat nicht nur die SBB die Entwicklung verpasst, sondern auch die Politik. Mit ihrem engen Korsett und ihrem Druck auf Gewinnoptimierung hat sie es mitzuverantworten, dass die SBB an Goodwill beim Personal und auch teilweise bei den Kundinnen und Kunden eingebüsst hat. Diese Ansicht vertreten viele, nicht nur Gewerkschafter Marjan Klatt. Er ist erfreut über die neuen, alten Töne von Ducrot. Er bleibt aber vorsichtig: Die SBB könne die Entwicklung der letzten zehn Jahre nicht so schnell ändern, das brauche Zeit.
Trotz allem sieht Klatt die Zukunft positiv. Die Pläne von vollautomatisierten Zügen, von welchen der frühere CEO Andreas Meyer noch geschwärmt hat, sind in der Schublade verschwunden. «Wer heute Lokführer wird, kann auf diesem Beruf noch pensioniert werden», ist Klatt überzeugt.