#PesticideSecrets - Syngenta und Bayer hielten jahrelang Pestizid-Studien zurück
Vier Pestizidhersteller, darunter Syngenta und Bayer, haben über Jahrzehnte Studien zurückgehalten. Das zeigen Recherchen von SRF Investigativ und einem internationalen Recherchekollektiv. EU-Kreise zeigen sich besorgt. Drei Pestizidwirkstoffe sind nun strenger reguliert.
Autor: Maj-Britt Horlacher, Fiona Endres, Philippe Stalder
Sind beispielsweise Birnen oder Erdbeeren von Schädlingen befallen, kann dieser Wirkstoff effizient helfen: Abamectin, unter Bauern bekannt als Pflanzenschutzmittel «Vertimec Gold», das meist in Notfällen zum Einsatz kommt. Der Wirkstoff wurde von Syngenta entwickelt und ist seit Jahrzehnten in der EU und der Schweiz zugelassen, mit strengen Vorschriften, wie oft und wo Bauern ihn anwenden dürfen.
Im Frühling hat die Europäische Union die Zulassung für Abamectin erneuert, allerdings die Anwendung nochmals eingeschränkt. Der Grund: Die EU-Behörden hatten neu Kenntnis von Abamectin-Studien. Diese zeigen bei Ratten eine verzögerte Entwicklung der Sexualorgane. Die Schweiz prüft derzeit, ob sie diese Verschärfung übernimmt. Brisant: Die Studien hatte Herstellerin Syngenta schon 2005 und 2007 durchgeführt – aber nicht bei den Zulassungsbehörden eingereicht. Obwohl sie dies hätte tun müssen.
Eine Recherchekooperation
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Die Recherche #PesticideSecrets hat SRF Investigativ in Zusammenarbeit mit BR Recherche, Spiegel, Guardian und LeMonde durchgeführt. Die wissenschaftliche Untersuchung, die der Recherche zugrunde liegt, wird im Wissenschaftsmagazin “Environmental Health” publiziert.
Ein Viertel aller DNT-Studien nicht eingereicht
Abamectin ist einer von neun Pestizidwirkstoffen, bei denen so genannte DNT-Studien von den Herstellern zwar durchgeführt, in Europa aber nicht eingereicht wurden. Die Ungereimtheiten entdeckt hat Axel Mie. Der Chemiker der Medizinuniversität in Stockholm glich die Zulassungsdossiers für Pestizide in den USA und Europa ab. Und stellte fest: Ein Viertel aller DNT-Studien fehlte in der EU – und damit auch in der Schweiz.
Worum geht’s bei den DNT-Studien?
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DNT-Studie steht für «Developmental Neurotoxicity Study» und hat zum Ziel, die Hirnentwicklung von Kindern und Neugeborenen zu erforschen. Wie wirken sich Chemikalien auf das Gehirn oder Nervensystem aus. Da die Substanzen aus ethischen Gründen nicht an Kindern oder Föten getestet werden können, werden kostspielige und aufwändige Experimente mit Nagetieren durchgeführt. So werden etwa schwangere Ratten den Pestizidwirkstoffen ausgesetzt und danach überprüft, ob die Rattenjungen Beeinträchtigungen am Gehirn, bei der Entwicklung der Sexualorgane oder in der Bewegungsfähigkeit zeigen. Die Chemiekonzerne führten diese Studien in früheren Jahren oft in ihren eigenen Laboren durch, unterdessen werden meist externe Firmen dafür beauftragt. DNT-Studien sind umstritten, unter anderem weil oft viele Tiere für die Versuche eingesetzt werden müssen und die Übertragbarkeit auf den Menschen nicht immer klar ist. Trotzdem sagt der renommierte Neurobiologie Yehezkel Ben-Ari zur Bedeutung der nun aufgetauchten DNT-Studien: Diese müssten umso ernster genommen werden, als die Auswirkung von Pestiziden auf die Neuroentwicklung auch beim Menschen eindeutig nachgewiesen seien. «Insbesondere bei Autismus, aber auch beim Intelligenzquotienten, ist bekannt, dass sich die mütterliche Exposition auf das ungeborene Kind auswirkt», so Ben-Ari.
Alle fraglichen DNT-Studien wurden in den 2000er Jahren angefertigt. Bei sieben der neun Studien zeigten sich unerwünschte Effekte – wie eine veränderte Bewegungsfähigkeit oder Gehirngrösse.
Die Pestizidhersteller, die mit diesen DNT-Studien ihre Wirkstoffe testeten und die Resultate hätten einreichen sollen, sind die ganz Grossen der Chemiebranche: die in der Schweiz und China ansässige Syngenta, die deutsche Bayer, die japanischen IKS und Nissan Chemical Corporation.
Professorin: «Das kann uns als Konsumenten in Gefahr bringen»
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Ob die Pestizidhersteller die Studien absichtlich nicht eingereicht oder nur schlampig gearbeitet haben, darüber könne sie nur spekulieren, sagt Cristina Rudén, Professorin für Umwelttoxikologie in Stockholm. Sie hat die Untersuchung von Axel Mie begleitet. Fakt sei: Es handle sich um sehr aufwändige, grosse Studien. Und: Die Konzerne hätten den Aufsichtsbehörden wichtige Informationen vorenthalten. Die Behörden könnten so die Sicherheit der Pflanzenschutzmittel nicht richtig beurteilen. «Das kann uns als Konsumenten in Gefahr bringen», so Rudén. Axel Mie fügt an: «Im schlimmsten Fall haben wir nun Wirkstoffe auf dem Markt, die eigentlich nicht angewendet werden dürften.»
Ein Rosinenpicken verhindern
Wenn ein Konzern eine Studie anfertigt, sei er verpflichtet, diese bei der Zulassung einzureichen, bestätigt Jurist Björnstjern Baade von der Freien Universität Berlin. «Insbesondere wenn diese potenziell schädliche Auswirkungen zeigten.» Diese Einschätzung teilen inoffiziell auch Vertreter der EU-Kommission. In interner Korrespondenz, die dem Recherchekollektiv vorliegt, steht, dass ein solches Verhalten der Pestizidhersteller «nicht mit den rechtlichen Anforderungen vereinbar ist.»
Das gilt für Pestizid-Zulassungen in der Schweiz
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Die Pflicht, durchgeführte Studien einzureichen, gilt laut Goran Seferovic, Professor am Zentrum für Regulierung und Wettbewerb der ZHAW, auch für die Schweiz. Das betreffe Informationen, die sich auf Auswirkungen für Natur und Mensch beziehen. Auch habe der Hersteller, der ein Pflanzenschutzmittel zulassen wolle, eine erhöhte Pflicht aufgrund von Treu und Glauben, sagt Seferovic. Auf Behördenseite zuständig für die Zulassung von Pflanzenschutzmitteln ist das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV. Allerdings stützt sich die Schweiz zu weiten Teilen auf die EU-Behörden. Wirkstoffe – also zum Beispiel die chemische Substanz Abamectin – prüft ausschliesslich die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit EFSA. «Das BLV beurteilt keine Wirkstoffe, sondern übernimmt die Einschätzung der EFSA», schreibt das BLV. Insofern müssten die Hersteller dem BLV keine Studien einreichen und die Behörde könne sich zu den fraglichen DNT-Studien auch nicht im Detail äussern. Und weiter: «Die Pflanzenschutzmittelverordnung sieht auch vor, dass die Schweiz die Beurteilungsergebnisse der EFSA und die Genehmigungsentscheide der EU übernimmt.» Das BLV könne aber «einen Wirkstoff jederzeit überprüfen und eine Genehmigung widerrufen, ändern oder einschränken, wenn die Genehmigungskriterien nicht mehr erfüllt sind.» Zudem legt die Schweiz eigenständig Anwendungsvorschriften fest, also zum Beispiel bei welchem Gemüse oder welchem Obst eine Substanz wie oft und wie lange eingesetzt werden darf.
Seit Anfang der 90er-Jahre gibt es im EU-Recht eine Pflicht, alle verfügbaren nachteiligen Daten zu melden. Diese Vorgaben wurden mehrfach präzisiert und verschärft. So soll ein Rosinenpicken verhindert werden. Damit Pestizidhersteller also nicht nur Studien einreichen, deren Resultate ihnen genehm sind. Heute müssen die Konzerne die Studien bereits vor ihrer Durchführung anmelden.
Schärfere Regulierung wegen Studien
Die DNT-Studien, die teilweise über 20 Jahre lang verborgen waren, sind relevant. Einige zogen nun, da sie auf Anfrage der Behörden nachgereicht wurden, strengere Regulierungen nach sich. Bei Abamectin hat die EU den Grenzwert, der sich auf Obst befinden darf, im Frühling 2023 heruntergesetzt – aufgrund der DNT-Studien. Das BLV prüft aktuell eine Anpassung für die Schweiz.
Zwei weitere Wirkstoffe sind in der EU heute auch aufgrund der fraglichen DNT-Studien strenger reguliert: Bei Pymetrozin (Syngenta) wurde die Risikobewertung angepasst. Die Substanz wurde bis vor kurzem auch in der Schweiz noch verkauft, ist heute aber nicht mehr zugelassen. Ethoprophos (Bayer) ist unterdessen europaweit verboten. In der Schweiz war der Wirkstoff nie zugelassen.
Bei vier weiteren Pestizidwirkstoffen, bei denen die Hersteller Studien nicht eingereicht hatten, werden derzeit auf EU-Ebene die Zulassungen überprüft. Unter anderem läuft die Neu-Zulassung von Glyphosat – auch hier wird eine jahrzehntealte DNT-Studie nun erstmals berücksichtigt.
Spezialfall Glyphosat
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Die Frage, wie gefährlich der Wirkstoff Glyphosat ist, wurde in den letzten Jahren vielfach diskutiert. Nach wie vor gehören die glyphosat-haltigen Pflanzenschutzmittel zu den meistverkauften in der Schweiz. Zu den neun nicht eingereichten DNT-Studien gehört auch eine zu Glyphosat-Trimesium. Syngenta liess diese 2001 durchführen. Trimesium ist ein spezielles Glyphosat-Salz, das in Europa nie zugelassen war und bei dem unklar ist, inwiefern Erkenntnisse darüber auch für andere Glyphosate gelten. Nichtsdestotrotz hätte laut Forscher Mie die DNT-Studie zu Trimesium für die Zulassung eingereicht werden müssen – als Teil des gesamten Glyphosat-Dossiers. Chemiker Axel Mie machte die EU-Behörden im Frühling 2022 auf die fehlende Studie aufmerksam. Die Zulassungserneuerung für Glyphosat auf EU-Ebene läuft derzeit. Die Recherchen zeigen, dass die EU sich die fragliche Trimesium-Studie beschafft hat und sie im laufenden Verfahren berücksichtigen will. Syngenta schreibt in einer Stellungnahme, diese Studie sei wissenschaftlich nicht relevant und habe deshalb auch nicht eingereicht werden müssen.
Syngenta und Bayer weisen Vorwürfe zurück
Seit 2017 gehört Syngenta der chinesischen ChemChina, hat ihren Hauptsitz aber nach wie vor in der Schweiz. Der Konzern schreibt in einer Stellungnahme: «Es gibt keine nicht eingereichten DNT-Studien von Syngenta in der EU oder der Schweiz.» Die DNT-Studien seien erstellt worden, um die US-Rechtsvorschriften zu erfüllen und seien «auf spätere Anforderungen der EU hin» ausgehändigt worden. Juristen halten allerdings fest, dass jede durchgeführte Studie aus eigenem Antrieb eingereicht werden muss. Seit rund 30 Jahren gilt, dass Hersteller die EU-Behörden informieren müssen, wenn nachteilige Erkenntnisse auftauchen.
Bezüglich Abamectin schreibt Syngenta, der Konzern sei für spätere Wiederzulassungsverfahren nicht zuständig. Dies hätten andere Firmen angestossen. Zudem hätten die fraglichen DNT -Studien aus den 2000er Jahren keine neuen toxikologischen Erkenntnisse gebracht. Dem widerspricht die EU-Behörde EFSA in ihrer Antwort: Aus den entsprechenden Studien seien nun «gesundheitsbezogene Sicherheitswerte» abgeleitet worden.
Die deutsche Bayer schreibt: «Wir haben zu jeder Zeit die nötigen Studien eingereicht, die nach den damaligen Regularien gefordert waren.» Die fraglichen DNT-Studien hätten zudem die Risikobewertung der Behörden nicht verändert.
Nissan Chemical Cooperation hat auf Anfrage bestätigt, die eine fragliche DNT-Studie von 2007 im Jahr 2023 in der EU eingereicht zu haben.
ISK schreibt, der Konzern sei sich bewusst, dass alle relevanten Studien eingereicht werden müssten. Die fragliche DNT-Studie von 2005 sei später während eines Wiederzulassungsverfahrens in der EU vorgelegt. Diese sei für die USA angefertigt und dort eingereicht worden und damit auch öffentlich gewesen.
EU-Kommission ist «ernsthaft» besorgt
Die löchrigen Zulassungsdossiers beunruhigen offenbar die EU-Kommission. Das lässt sich aus Korrespondenz lesen, die dem Recherchekollektiv vorliegt. So heisst es an einer Stelle: Jeder Fall, in dem Informationen nicht offengelegt würden, die für die Zulassung oder Erneuerung eines Wirkstoffs potenziell relevant seien, sei «besorgniserregend.»
Das sagen die Zulassungsbehörden
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Sowohl die Zulassungsbehörden der EU wie auch der Schweiz geben sich in ihren offiziellen Antworten grundsätzlich: In der EU liege «die Beweislast für die Sicherheit von Pestizidwirkstoffen beim Hersteller», schreibt etwa die EFSA. Das Schweizer BLV hält fest, es werde «in Abstimmung mit der EU Massnahmen ergreifen, wenn sich zeigt, dass Handlungsbedarf besteht.»
In einer anderen E-Mail schreibt ein Kommissionsvertreter: Dass gewisse Hersteller «offenbar Studien mit einem ungünstigen Ergebnis für bestimmte Wirkstoffe nicht mit dem Zulassungsdossier eingereicht haben, ist eine ernsthafte Besorgnis.» Die EU-Kommission hat laut der Korrespondenz nun «Fact Finding»-Missionen ins Leben gerufen. Diese sollen bis Frühling 2025 etwa Labore überprüfen, um sicherzustellen, dass alle durchgeführten Studien eingereicht werden.
Die zurückgehaltenen DNT-Studien liefern also nicht nur neue Erkenntnisse, wie sich die Pestizidwirkstoffe auf das Gehirn auswirken. Sie sorgen Jahrzehnte nach ihrem Erstellen für Besorgnis, neue Kontrollen und schärfere Regulierungen.
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