Heute ist der internationale Tag der Nulltoleranz gegen weibliche Genitalverstümmelung. Diese ist in der Schweiz seit 2012 unter Strafandrohung verboten.
Für Nadia Bisang, Projektverantwortliche bei der Caritas, ist klar: Tausende Mädchen sind von der Genitalbeschneidung in der Schweiz bedroht – auch wenn es bislang zu keiner einzigen Anklage gekommen ist.
SRF News: Wie verbreitet ist die Genitalbeschneidung von Frauen in der Schweiz?
Nadia Bisang: Wir gehen von 15'000 Mädchen und Frauen aus, die in der Schweiz für Genitalbeschneidung gefährdet oder davon betroffen sind. Zahlen zu tatsächlichen Beschneidungen gibt es keine. Es ist auch keine einzige Anzeige deswegen eingegangen, seitdem der Strafartikel 124 vor sechs Jahren in Kraft getreten ist. Doch es gibt immer wieder Verdachtsfälle, dass eine Genitalbeschneidung bevorsteht oder dass kleine Mädchen beschnitten wurden.
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Wer nimmt die Mädchenbeschneidungen hierzulande vor?
Es kann sein, dass Wanderbeschneiderinnen in die Schweiz kommen, um Beschneidungen an kleinen Mädchen vorzunehmen. Andere Eltern lassen eine Beschneidung in ihren Herkunftsländern vornehmen, etwa in den Ferien. Auch werden Beschneidungen teilweise in den Nachbarländern der Schweiz vorgenommen.
Wer sind die Wanderbeschneiderinnen?
Das können Familienmitglieder sein, es kann auch ein Arzt, eine Ärztin oder eine Hebamme aus dem Herkunftsland sein.
Manche Fachpersonen sind mit dem Thema überfordert und vermeiden es, mit den Betroffenen darüber zu sprechen.
Wie gehen Ärzte in Schweizer Spitälern mit dem Problem um, wenn sie eine Genitalverstümmelung etwa bei einer Geburt feststellen?
Normalerweise wird dies schon bei der Geburtsvorbereitung angesprochen. Gewisse Fachpersonen sind mit dem Thema allerdings überfordert und vermeiden es, darüber mit den Betroffenen zu sprechen. Dann kommt es oftmals zu schwierigen Situationen.
Werden solche Fälle von weiblicher Genitalverstümmelung den Behörden gemeldet?
Das medizinische Personal untersteht dem Arztgeheimnis und hat entsprechend keine Meldepflicht. Es muss sich vom Arztgeheimnis entbinden lassen, um solche Fälle zu melden. Die Melderechte und -pflichten sind kantonal allerdings unterschiedlich geregelt.
Genitalverstümmelung ist verboten und ein Offizialdelikt. Trotzdem hat es seit Einführung des Gesetzes 2012 keine einzige Anklage gegeben. Ist das Gesetz sinnlos?
Man darf die präventive Wirkung des Gesetzes nicht unterschätzen. So erleben wir in der Arbeit mit den Vereinigungen von Migrantinnen immer wieder, dass das Gesetz als Schutz vor Genitalverstümmelung wahrgenommen wird. Auch standen Migranten-Organisationen hinter der Einführung dieses Gesetzesartikels. Sie können so auch dem Druck aus den Herkunftsfamilien, eine Genitalbeschneidung bei einem Mädchen vorzunehmen, standhalten.
Das Gesetz allein reicht nicht. Es braucht eine Sensibilisierung durch Fachpersonen, damit die Mädchen geschützt werden können.
Dank dem Verbot argumentieren die Migranten, dass sie allenfalls ausgewiesen werden könnten, wenn sie dagegen verstossen. Dann würden sie auch kein Geld mehr heimschicken können. Trotzdem reicht das Gesetz allein nicht. Es braucht die Arbeit in den Communitys und die Sensibilisierung durch Fachpersonen damit die Mädchen geschützt werden können.
Trotz der Arbeit der Caritas in den Communitys sind 15'000 Mädchen von Genitalverstümmelung bedroht. Machen Sie etwas falsch?
Wir sind seit vielen Jahren in diesem Bereich tätig. In dieser Zeit hat in den älteren Generationen der Migrantinnen und Migranten eine Veränderung stattgefunden. Die schon länger in der Schweiz lebenden Migranten distanzieren sich zunehmend von dieser Praxis. Es kommen aber immer wieder neue Generationen von Migranten in die Schweiz, welche die Mädchenbeschneidung als normal ansehen. Hier braucht es viel und stetige Arbeit, um eine Änderung der Einstellung dazu zu bewirken.
Hat sich die Situation betreffend der Genitalverstümmelung in der Schweiz in den letzten Jahren verbessert oder verschlechtert?
Das ist schwierig zu sagen. Die internationalen Zahlen zeigen, dass die Beschneidungsraten zurückgehen. Gerade in Ländern, wo der Eingriff früher besonders häufig war, gehen sie besonders stark zurück. In der Schweiz allerdings ist das Thema wegen der Migration in den vergangenen Jahrzehnten wichtiger geworden.
Das Gespräch führte Raphaël Günther.