Das Bezirksgericht Bremgarten AG verhandelt diese Woche einen Fall, der aufwühlt.
Eltern sollen 2020 in Hägglingen ihr dreijähriges, behindertes Kind getötet haben.
Laut Staatsanwaltschaft sollen die Eltern das Mädchen betäubt und später erstickt haben.
Sie würden heute genau gleich handeln, sagten die Eltern des Mädchens vor Gericht.
Das Gericht muss folgende Frage klären: Wollten die Eltern das Kind «erlösen» oder haben sie aus Überforderung egoistisch gehandelt? Angeklagt sind die heute 32-jährige Mutter und der 34-jährige Vater; sie müssen sich wegen Mordes vor dem Bezirksgericht Bremgarten verantworten. Ebenfalls angeklagt – wegen Gehilfenschaft zu Mord – ist die Grossmutter des Kindes. Sie soll von der Tat erfahren haben.
Die Eltern sollen laut Anklage je 18 Jahre Freiheitsstrafe erhalten. Die Grossmutter soll für 5 Jahre ins Gefängnis. Zudem sollen die drei aus Deutschland stammenden Angeklagten einen Landesverweis von 15 Jahren erhalten. Die Strafanträge der Verteidigung werden während der Verhandlung bekannt gegeben.
Was sagt der Medizinethiker?
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Markus Zimmermann ist Medizinethiker und katholischer Theologe. Er ist Präsident der Nationalen Ethikkommission im Bereich der Humanmedizin
und Titularprofessor an der
Universität Fribourg.
SRF hat mit ihm über den Wert des Lebens und schwierige Entscheidungen gesprochen.
SRF: Markus Zimmermann, was macht eine Nachricht, dass Eltern ihr Kind töten, weil es schwerst behindert ist, mit Ihnen?
Eine solche Nachricht ist erschütternd, sie macht mich sprachlos. Das ist keine Möglichkeit, damit umzugehen, auch wenn die Situation eine riesige Herausforderung ist. Solche Entscheide sind historisch belastet.
Wie genau meinen Sie das, Sie sprechen die Zeit des Nationalsozialismus an?
Und davor und danach. Es waren nicht nur die Nationalsozialisten. Die Idee einem Menschen zu helfen, indem man ihn tötet, ist so alt wie die Menschheit. Das wurde immer wieder praktiziert. Das greift in die Grundrechte eines Menschen ein, ins Recht auf Leben.
Gibt es irgendeinen Grund aus der Warte der Medizinethik, dass in einem schwierigen Fall der Tod des Kindes die Eltern entlasten kann?
Meines Erachtens ist die Beurteilung von aussen, sogar von den Eltern, die vielleicht viel zu nah dran sind, sehr schwierig oder verwerflich. Stellen Sie sich beispielsweise vor, wie viele schwer chronisch erkrankte Menschen leiden. Daraus abzuleiten, dass es besser wäre, wenn ein Mensch nicht mehr da wäre, ist medizinethisch nicht begründbar.
Welche Ratschläge geben Sie als katholischer Theologe und Medizinethiker in solch schwierigen Situationen?
Betroffene sollen sich Hilfe suchen. Es gibt Anlaufstellen, es gibt Hilfestellungen. Ich habe Eltern mit einem schwerstbehinderten Kind kennengelernt. Es war beeindruckend, mit welcher Hingabe die Eltern sich mit dem Kind beschäftigt haben. Das ist sicher nicht selbstverständlich. Es braucht Distanz, kleine Hilfestellungen, und auch die Betreuung in einer Institution könnte eine Lösung sein.
Das Gespräch führte Christoph Studer.
Das dreijährige Mädchen litt an Cerebralparese. Es habe «rund um die Uhr [...] Betreuung bzw. Unterstützung» gebraucht, was ein Leben lang so geblieben wäre», schreibt die Staatsanwaltschaft in der Anklage. Um die Betreuung nicht weiter auf sich nehmen zu müssen, hätten die Eltern entschieden, das Kind zu töten, sagt die Staatsanwaltschaft.
Die Eltern sollen das Mädchen mit Ecstasy im Schoppen betäubt und es anschliessend erstickt haben. Dies sei nicht der erste Versuch gewesen. Die Tat sei «skrupellos» und «krass egoistisch», wertet die Staatsanwaltschaft.
Kein Mord, sondern «Hilfe», sagt Mutter
Die Mutter sagte vor Gericht: «Ich habe meine Tochter nicht ermordet, ich habe meiner Tochter geholfen.» Es sei in Ordnung, dass sie vor Gericht sei und sich strafrechtlich verantworten müsse. Sie kämpfe aber immer noch mit dem Verlust des Kindes.
Die Diagnose, dass die Tochter beeinträchtigt ist, habe sie schockiert. Die Tochter habe Schmerzen, Krämpfe und Schlafprobleme gehabt. Der Entscheid, die Tochter zu töten, sei zudem nicht auf einmal gefallen. «Es war ein Gefühl, das wir hatten.»
Cerebrale Bewegungsbehinderung
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Laut der «Vereinigung Cerebral Schweiz» sind cerebrale Bewegungsbehinderungen Störungen im Bewegungsablauf, die auf eine Hirnschädigung zurückzuführen sind. Bei der «Cerebralparese», wie die Behinderung in der Fachsprache heisst, entwickeln sich Haltung, Bewegung oder Reflexe eines Kindes nicht erwartungsgemäss. Neben Problemen mit der Motorik können unter anderem Schluckprobleme auftreten. Das Sprechen ist oft langsam oder gar nicht möglich. Die Behinderung sei nicht heilbar, heisst es weiter, Betroffene können aber durch moderne Hilfsmittel unterstützt werden.
Jedes 500. in der Schweiz geborene Kind ist von Cerebralparese betroffen, oft aber nur leicht, wie es bei der «Stiftung Cerebral» heisst. Die Stiftung schätzt, dass es in der Schweiz 11'000 betroffene Familien gibt.
Der Kindsvater habe sich über das Verabreichen der Drogen informiert. Er habe dem Kind helfen wollen und sie habe ihm vertraut, gab die Mutter vor Gericht an. Die Situation sei «lästig» gewesen, die Tochter hingegen nicht. Nach der Tat sei sie hilflos, traurig und schockiert gewesen.
Ich bereue es für mich, dass sie nicht mehr da ist.
Sie habe danach viel Alkohol getrunken. Die Tat selbst bereue sie nicht; für die Tochter sei es das Richtige – und sie würde es wieder tun, wie die Frau vor Gericht sagte. Aber: «Ich bereue es für mich, dass sie nicht mehr da ist.» Heute verarbeite sie die Tat mithilfe einer Psychologin und zünde regelmässig Kerzen für das verstorbene Kind an.
Vater wollte Kind «erlösen»
Am Nachmittag wurde der Vater des verstorbenen Kindes befragt. Die Geburt der Kleinen sei einer der schönsten Momente seines Lebens gewesen. Die Diagnose der Cerebralparese habe ihn ohnmächtig gemacht, weil er nicht helfen konnte.
Es war für das Mädchen das Beste, für uns Eltern das Schlimmste.
Das Kind habe jede Nacht vor Schmerzen aufgeschrien. Sie als Eltern hätten besprochen, dass wenn es schlimmer würde, sie dem Kind helfen würden. «Wir hatten nie die Idee, sie zu töten», sagte der Vater.
Der Todestag sei nicht geplant gewesen, «wir wollten sie einfach erlösen.» Es sei für das Mädchen das Beste, für sie als Eltern das Schlimmste gewesen.
Fragen zur geplanten Magensonde
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Eine Magensonde hätte eine Verbesserung bringen sollen. Doch die Eltern sagten die geplante Operation im März 2020 ab. Auch lehnten sie verschiedene Male Hilfe ab und verzichteten auf Angebote zur Entlastung.
Das Kind habe panische Angst vor dem Schlucken gehabt, gab die Mutter vor Gericht an. Sie habe die Magensonde nicht per se abgelehnt, einfach zu jenem Zeitpunkt. Es sei während der Pandemie gewesen und sie und der Vater hätten abwarten wollen, sagten sie aus. Sie hätten durch den Eingriff keine Besserung erwartet, sagte der Vater.
Der Gerichtsprozess dauert mehrere Tage. Am Mittwoch sind die Plädoyers von Anklage und Verteidigung geplant. Das Urteil wird am Freitag erwartet.
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