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Prozessbeginn in St. Gallen Brisanter Fall: Lukaschenko-Gehilfe vor Ostschweizer Kreisgericht

Der Belarus-Prozess am Kreisgericht Rorschach könnte Signalwirkung für eine schweizweite Regelung haben.

Im Zentrum steht ein Belarusse, dessen Fall heute Dienstag vor dem Kreisgericht Rorschach behandelt wird. Aus Platzgründen findet die Verhandlung allerdings nicht im Saal in Rorschach statt, sondern in den Räumlichkeiten des Kantonsgerichts St. Gallen. Denn: Der Fall schlägt Wellen über die Landesgrenzen hinaus.

Was ist passiert? Ende der 90er-Jahre kam es in Weissrussland zu Protesten. Die Bevölkerung demonstrierte gegen die Diktatur von Alexander Lukaschenko. Drei Oppositionelle verschwanden 1999 spurlos, darunter der ehemalige Innenminister Juri Sacharenko. 20 Jahre lang wusste niemand, was mit den Oppositionellen geschehen war.

Dann trat ein Mann in einem Dokumentarfilm der «Deutschen Welle» auf und sagte, die Männer seien tot. Er wisse das, weil er als Mitglied einer Spezialeinheit an deren Ermordung beteiligt gewesen sei. Hätte er sich geweigert, mitzumachen, so wäre auch er erschossen worden.

Dieser Mann, der nun angeklagt ist, befand sich zu diesem Zeitpunkt in der Ostschweiz und wurde von Nichtregierungsorganisationen aufgespürt und angezeigt.

Klosterhof St. Gallen mit Kantonsgerichtsgebäude
Legende: Im Klosterhof in St. Gallen – hier in der Bildmitte – befindet sich das Kantonsgericht. Keystone/Gian Ehrenzeller

Dass ein solcher Fall mit internationaler Brisanz und Tragweite an einem Kreisgericht in einer Ostschweizer Kleinstadt behandelt wird, habe mit der UNO-Konvention über das Verschwindenlassen zu tun, sagt Mark Pieth, emeritierter Strafrechtsprofessor: «Der Tatbestand ist in der Schweiz noch nie und wahrscheinlich weltweit auch kaum je angewandt worden. Dieser Tatbestand ist einer der wenigen, bei dem das Weltrechtsprinzip gilt. Dabei nimmt die Schweiz auch Fälle an, die mit der Schweiz überhaupt nichts zu tun haben.»

Grosses öffentliches Interesse

Für das Kreisgericht sei die juristische Herausforderung bei einem solchen Fall nicht grösser oder kleiner, sagt Monika Simmler, Rechtswissenschaftlerin an der Universität St. Gallen. «Im Zentrum stehen andere Fragen. Die internationale Dimension zieht ein grosses öffentliches Interesse an. Viele Medienschaffende werden erwartet. Es gibt ein grosses politisches Interesse. Darauf musste sich das Gericht vorbereiten.»

Ein Profi liest im Vorfeld die Zeitung nicht mehr.
Autor: Monika Simmler Rechtswissenschaftlerin Universität St. Gallen

Mit dem dabei entstehenden Druck müssen ein Gericht und der Rechtsstaat umgehen können, so Simmler weiter. Am Kreisgericht Rorschach gibt es Laienrichter und eine amtliche Verteidigerin.

Die Rechtswissenschaftlerin erklärt: «Die Richterinnen und Richter müssen unparteiisch bleiben. Sie sollten, wenn immer möglich, versuchen, sich der Medienöffentlichkeit zu entziehen. Ein Profi liest im Vorfeld die Zeitung nicht mehr, um sich eben wirklich nur auf die Fakten konzentrieren zu können.»

Mehrere Instanzen wahrscheinlich

Monika Simmler plädiert dafür, die Strafprozessordnung zu ändern, wenn solche Fälle nun vermehrt auftreten sollten: «Bei Fällen, die wir nach Weltrechtsprinzip beurteilen, wäre es sicher sinnvoll, dass das Bundesstrafgericht mit der nötigen Expertise zum Einsatz kommt. Bei Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist das heute schon so. Ich denke, dass es auch bei einem solch politischen Fall mit Verschwindenlassen wahrscheinlich angezeigt wäre.»

Das Urteil gegen den Angeklagten wird für heute Dienstag oder Mittwoch erwartet. Bis zu einer rechtmässigen Verurteilung gilt der Belarusse als unschuldig. Laut Simmler ist es wahrscheinlich, dass der Fall nach dem Kreisgericht Rorschach weiter geht ans Kantonsgericht oder bis vor Bundesgericht.

Tagesschau, 18.09.2023, 19:30 Uhr ; 

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