Seit einer Darmspiegelung ist für Anna Meier (Name der Redaktion bekannt) nichts mehr wie zuvor. Mit einer APC-Sonde wurde ihr Darm versehentlich durchstossen, ein Teil musste operativ entfernt werden. Seither ist sie auf Behandlungen, Schmerzmittel und Pflege angewiesen – und wird es ihr Leben lang bleiben.
Dabei hätte sich das verhindern lassen: Nach Einschätzung der Schweizerischen Patientenorganisation war der Einsatz einer mit Strom stark erhitzten Sonde – bei der das Risiko einer Perforation bekannt ist – in Meiers Fall gar nicht angezeigt. Eine «normale» Darmspiegelung hätte gereicht. Und selbst wenn doch, hätte man vorgängig eine schützende Substanz als «Kühlkissen» injizieren müssen.
Krankenkasse nicht motiviert
Meier geht deshalb rechtlich gegen das Spital vor und fordert unter anderem Geld für den Pflegeschaden. Sie ist dabei auf sich allein gestellt. Ihre Krankenkasse, die SWICA, will nicht klagen. «Meine Krankenkasse zeigt überhaupt kein Interesse daran, das macht uns stutzig», so Meier. Die Folge: Statt dass die Haftpflichtversicherung des Spitals die Kosten deckt, zahlt die Krankenkasse – also die Prämienzahlenden.
Legende:
Fehler passieren – auch im Spital. Doch wer zahlt dafür?
KEYSTONE/Christian Beutler
Das geht ins Geld: Allein im ersten Jahr kosteten die Behandlungen von Frau Meier wegen des fehlenden Stücks Darm über 70'000 Franken – und jedes Jahr kommen Kosten dazu.
Die SWICA teilt auf Anfrage mit, ihr Vertrauensarzt habe keine Hinweise auf eine Sorgfaltspflichtverletzung gefunden. Bei der Perforation des Darms handle es sich um eine Komplikation, die bei einem solchen Eingriff eintreten könne. Sollten die Abklärungen der Patientin eine Sorgfaltspflichtverletzung bestätigen, würde die SWICA ihre Regressbemühungen wieder aufnehmen, das Geld also bei den Haftpflichtigen zurückfordern.
Stellungnahme SWICA im Detail
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«In der vorliegenden Angelegenheit wurde SWICA vom Lebensgefährten der Versicherten am 22. März 2022 kontaktiert und um Überprüfung einer möglichen ärztlichen Sorgfaltspflichtverletzung anlässlich der am 18. März 2022 durchgeführten Darmspiegelung gebeten. Unser Vertrauensarzt hat am 18. Juli 2022 nach Vorliegen sämtlicher relevanten Berichte erstmals Stellung dazu bezogen und eine ärztliche Sorgfaltspflichtverletzung verneint. In seiner medizinischen Beurteilung ging er von einer eingriffsinhärenten Komplikation aus, die eingetreten war. Auch zur Folgebehandlung hat der Vertrauensarzt am 11. Januar 2023 auf Wunsch der Versicherten Stellung bezogen. Erneut sah er keine Hinweise, die für eine Verletzung der ärztlichen Sorgfalt sprachen.
SWICA hat die Versicherte entsprechend über die Ergebnisse der Abklärungen informiert. Dabei wurde sowohl die Versicherte als auch deren Rechtsanwalt darauf hingewiesen, SWICA zu informieren, sollten deren Abklärungen zu einem gegenteiligen Ergebnis gelangen, damit wir unsere Regressbemühungen erneut aufnehmen könnten. Zur Sicherung der Verjährung hat SWICA den Regress zudem vorsorglich dem Spital angekündigt.
Bis heute haben wir weder von der Versicherten noch von ihrem Anwalt eine entsprechende Rückmeldung erhalten, dass deren Abklärungen eine Sorgfaltspflichtverletzung bestätigt hätten. Die erwähnte Beurteilung der Patientenschutzorganisation wurde SWICA nie zugestellt, sodass wir den Fall erneut hätten prüfen können. Eine Stellungnahme zu dieser Beurteilung ist daher nicht möglich.»
Mit anderen Worten: Die SWICA überlässt es der Patientin, zu beweisen, dass die Ärzte nicht nach den Regeln der Kunst gearbeitet haben.
Gerichtsverfahren lohnt sich für Krankenkasse nicht
Die Zögerlichkeit der Krankenkasse kommt nicht von ungefähr: Dass etwas schiefgegangen ist und der Patient einen Schaden hat, reicht nämlich nicht für eine Haftung des Spitals. Die Krankenkasse muss beweisen, dass das Personal eine Sorgfaltspflicht verletzt hat.
Vor einer Klage ist ein Schlichtungsverfahren vorgeschrieben – dort werden bereits viele Fälle mit einem Vergleich abgeschlossen, also einem Kompromiss.
Bei öffentlichen Spitälern gelten zusätzlich spezielle Haftungsregeln, die den Weg vor Gericht noch komplizierter machen.
Quelle: SVV und Prio.Swiss
«Verfahren bei sogenannten Medizinal-Haftpflichtfällen sind in der Schweiz aufwändig und riskant», schreibt Dirk Meisel vom Krankenkassenverband Prio Swiss auf Anfrage. «Die Beweisführung ist höchst anspruchsvoll.» Ein Gerichtsverfahren erfordere teure medizinische Gutachten, generiere hohe Abklärungskosten und daure oft Jahre.
Am Ende berappen es die Prämienzahlenden
Wenn die zu erwartenden Prozesskosten höher sind als das, was die Krankenkassen decken müssen, verzichten sie auf einen Regress. Oder sie setzen auf Kompromisse: «Üblich sind aussergerichtliche Einigungen, um Zeit, Nerven und Kosten zu schonen», schreibt Thilo Kleine vom Schweizerischen Versicherungsverband SVV.
Diese Kriterien sind entscheidend
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Hat der Arzt gegen medizinische Standards verstossen?
Lässt sich dieser Fehler auch beweisen?
Hat der Fehler den Schaden versursacht?
Wie hoch ist der entstandene Schaden?
Kosten – Nutzen: Wie viel Geld kann vom Spital oder der Haftpflichtversicherung eingeholt werden – und deckt dieses Geld die Prozesskosten?
Wie sicher ist es, dass der Arzt, das Spital oder die Haftpflichtversicherung zahlen (können)?
Verfahrensaufwand: Gibt es Chancen auf eine schnelle Einigung oder droht ein jahrelanger Prozess?
Sind Leistungen aus der Grund- oder Zusatzversicherung betroffen?
Ist die Person, die einen Fehler gemacht hat, beim Spital angestellt oder arbeitet sie als Belegsarzt?
Handelt es sich um ein öffentliches oder privates Spital?
Quelle: SVV und Prio Swiss
«Eine Klage ist nur in den allerseltensten Fällen gerechtfertigt, wenn es um sehr hohe Versicherungskosten geht und kein Vergleich zustandekommt», schreibt auch Meisel von Prio Swiss. Letztlich gehe es den Krankenkassen darum, unnötige Mehrkosten zu Lasten der Prämienzahlenden zu verhindern.
So oder so: Die hohen Beweisanforderungen haben für Krankenkassen einen Preis. Und die Zeche zahlen am Ende die Prämienzahlenden.