Vor 40 Jahren sorgte die Rote Armee Fraktion (RAF) in Deutschland für ein blutiges Terrorjahr. Siegfried Buback (Generalbundesanwalt), Jürgen Ponto (Vorstandssprecher der Dresdner Bank) und Hanns Martin Schleyer (Arbeitgeberpräsident) wurden getötet – die Lufthansa-Maschine «Landshut» gekapert und entführt.
Zwei Jahre darauf erreichte der Terror auch die Schweiz. Nach einem Banküberfall flüchteten RAF-Terroristen in die Unterführung des Hauptbahnhofes Zürich.
Es kam zu einer Schiesserei. Eine Passantin wurde tödlich getroffen, der Polizist Bernhard Pfister schwer verletzt. Wie der Zwischenfall sein Leben veränderte und wie er heute auf Zeit und Täter zurückblickt, erzählt er im Interview mit SRF News.
SRF News: Wie ist Ihnen dieser Tag in Erinnerung?
Bernhard Pfister: Es war ein Montag. Ich hatte Patrouillen-Dienst, von 06.30 bis 09.30 Uhr. Dann kam über Funk eine Meldung: Die Volksbank an der Bahnhofstrasse sei überfallen worden. Ich und mein Kollege fuhren los. Vor dem Bahnhof machte uns ein Passant darauf aufmerksam, dass die Täter ins Shop-Ville runter seien. Mein Kollege ging das Auto parkieren, ich stieg alleine die Treppe hinunter in den Bahnhof. Ich dachte, die Täter wären schon lange weitergeflüchtet.
Was ist dann passiert?
Sobald ich unten angekommen war, rief mir jemand zu: «Hier sind sie!» In diesem Moment drehte sich ein anderer Mann um und begann zu schiessen. Ab hier sind meine Erinnerungen verschwommen. Das ging alles so schnell. Auf jeden Fall schoss ich zurück. Wir hatten damals sechs Schuss im Magazin der Pistole und einen im Lauf. Es kam mir vor, dass diese innert weniger Sekunden verschossen waren.
Wussten Sie, dass Sie sich im Feuergefecht mit einem RAF-Terroristen befinden?
Nein. Für viele Banküberfälle in der Schweiz war damals die sogenannte Alfa-Bande zuständig. Ich dachte, das wäre einer von denen und war überrascht, dass er zu schiessen begann. «Wieso schiesst der? Die Alfa-Bande will doch nur die Kohle», dachte ich mir.
Wie ist die Schiesserei ausgegangen?
Als erstes wurde ich in den linken Arm getroffen. Die Kugel durchbohrte den ganzen Unterarm und trat oberhalb des Ellbogens wieder aus. Die zweite Kugel traf mich in den Fuss. Danach suchte ich unter einer Rolltreppe Schutz, wo mich die dritte Kugel in den Rücken traf. Ich dachte mir: «Weshalb schiesst der ein drittes Mal, ich bin ja schon ausser Gefecht». Da lag ich also, unter dieser Rolltreppe und sagte zu mir: «Das ist das Ende, jetzt läuft das Blut raus, es wird langsam leer und dann ist fertig.»
Ab wann wussten Sie, dass Sie überleben?
Meine Hoffnung stieg, als ich einen Kollegen sagen hörte, dass die Sanität eingetroffen sei. Als Polizist hatte ich vorher viele schwere Unfälle miterlebt, bei denen die Verletzten dank der Sanität überlebten. Ich hatte Vertrauen, dass die mich retten würden.
Was war das für ein Gefühl, dass Sie jemand töten wollte?
Als Polizist in Uniform war ich natürlich ein Feindbild der RAF. Das war nicht gegen mich persönlich gerichtet. Ich konnte das deshalb relativ schnell verarbeiten und entwickelte auch keine Rachegefühle.
Bei der Schiesserei wurde eine Passantin getötet. Wie war das?
Als ich im Spital davon erfuhr, ging mir sofort der Gedanke durch den Kopf, dass eine meiner Kugeln die Frau getötet haben könnte. In der Untersuchung wurde dann klar, dass sie von einer Kugel des RAF-Terroristen getroffen wurde. Trotzdem hat es mich noch lange beschäftigt.
Wie ging es Ihnen nach diesem Erlebnis?
Ich war lange arbeitsunfähig, weil die Kugel in meinem Arm die Nerven zerstört hatte. Zum Glück kehrten mit der Zeit fast alle Funktionen zurück. Die linke Hand kann ich jedoch bis heute nicht richtig drehen. Trotzdem konnte ich etwa eineinhalb Jahre nach der Schiesserei wieder auf Streife. Ganz dasselbe war es nicht mehr. Bei Einbrüchen oder Überfällen bekam ich immer ein mulmiges Gefühl. Eine Schiesserei erlebte ich zum Glück nicht mehr.
Wie haben Sie diesen Vorfall verarbeitet?
Das ging relativ gut. Ich hatte das Glück, eine tolle Familie, gute Freunde, Kollegen und Nachbarn zu haben. Das hat mir viel geholfen. Doch ich habe gesehen, wie schnell es gehen kann und gemerkt, dass das Leben nichts Selbstverständliches ist. Seither versuche ich, den Tag zu geniessen, auch wenn es nicht immer klappt.
Haben Sie sich seit diesem Tag stärker mit der RAF auseinandergesetzt?
Ja, ich habe einige Bücher gelesen und muss sagen, dass ich die Anliegen der RAF bis zu einem gewissen Punkt nachvollziehen kann. Nicht die Gewalt, die verabscheue ich. Doch im Kern hatte ihre Ideologie etwas Wahres. Dass sie gegen einen Staat rebellierten, der an vielen Stellen von ehemaligen Nazis kontrolliert wurde, machte doch Sinn.
Das Gespräch führte Lars Gotsch.
Anschläge und Attentate der 2. RAF-Generation
Die Bilanz der RAF fällt vernichtend aus. Keines ihrer politischen Ziele wurde erreicht. Der Rückhalt in der Bevölkerung schwand vollends, als die Terroristen auch vor der Tötung von Menschen nicht zurückschreckten.
Auch nach Jahrzehnten gibt es keine Reue bei den Schlüsselfiguren. Peter-Jürgen Boock ist eine Ausnahme mit seiner Einsicht, die er im «Spiegel» kund tat («Es ist scheisse, ein Mörder zu sein.»)
Auch zur Aufklärung der Taten tragen Ex-RAF-Mitglieder wenig bis nichts bei. «Verständlich», sagt Butz Peters, deutscher Rechtsanwalt und Autor des Buches «1977: RAF gegen Bundesrepublik». «Aus strafrechtlicher Sicht – nicht aus moralischer – ist es ein Gebot der Vernunft, dass die Akteure nichts mehr sagen. Denn wenn sie etwas sagen würden, dann müssten sie damit rechnen, dass sie noch einmal für lange Zeit verurteilt werden.»
Man spricht nicht mit dem Staat: Diese Attitüde aus der Anfangszeit der RAF gelte auch heute noch. Neben dem Selbstschutz sieht Peters aber noch einen weiteren Grund für Haltung der Ex-Terroristen – das ideologische Moment. «Man möchte die Deutungshoheit über die eigene Geschichte behalten und verhindern, dass der Staat oder die Medien Fakten in die Hand bekommen, um zu rekonstruieren, was da genau passiert ist.»
Den Protagonisten von damals gehe es um den Schutz der eigenen Geschichte, des eigenen Anspruchs, der eigenen Ziele. Eine weitere Aufklärung sei deshalb unwahrscheinlich, so Peters.