Das Wichtigste in Kürze
- Ende 2018 werden alle Deutschschweizer Justizbehörden einem neuem System angeschlossen sein: Dem Risikoorientierten Sanktionenvollzug (ROS). Dieser soll Vereinheitlichung und mehr Risikobewusstsein bringen.
- Im Rahmen von ROS werden verurteilte Straftäter in eine von drei Risikokategorien eingeteilt – je nach Einteilung wird deren Gefängnisaufenthalt unterschiedlich vollzogen.
- Die Einteilung erfolgt mit einem Algorithmus, an dem es Kritik gibt. Seine Treffsicherheit sei zu tief – und er führt in den Kantonen zu stark unterschiedlichen Ergebnissen. Dies zeigt die Recherche von SRF Data.
Der Fall, der alles ins Rollen brachte, ist schon lange her. Im Oktober 1993 tötet der mehrfach verurteilte Mörder und Vergewaltiger Erich Hauert eine 20-jährige Pfadfinderführerin – auf Hafturlaub. Bei über hundert Urlauben ist nichts passiert, dann zeigt der Triebtäter in Hauert wieder seine hässliche Fratze. Wieso haben die Behörden seine Gefährlichkeit nicht erkannt?
Der «Mord vom Zollikerberg» löst zahlreiche Reformen aus, die heute praktisch jeden Gefängnisinsassen treffen – ob Verkehrsrowdy, Drogendealer oder Schwerverbrecher. Die Folge der neuen Nullrisiko-Politik heisst Risikoorientierter Sanktionenvollzug (ROS). Bis Ende 2018 werden alle Deutschschweizer Kantone ROS eingeführt haben. Oberstes Ziel: Rückfälle von Sexual- und Gewalttätern verringern. Doch das neue System wirft Fragen auf.
Bei Haftantritt gibt es einen Stempel
Das Kernstück von ROS ist die Rückfallprognose, die im grossen Stil angewendet wird. Am Anfang steht eine Triage, die die harmlosen von den kritischen Fällen trennt. Jeder Gefängnisinsasse, der eine bestimmte Mindeststrafe absitzen muss, wird bei Haftantritt in eine von drei Kategorien eingeteilt: A, B oder C.
A-Fälle gelten als unbedenklich, B-Fälle könnten betreffend «allgemeiner Delinquenz» rückfällig werden, also zum Beispiel erneute Drogendelikte begehen. C-Fällen gilt das grösste Augenmerk: Sie könnten erneut ein Gewalt- oder Sexualdelikt begehen und bedürfen vertiefter Abklärung.
Durchgeführt wird diese Triage mit dem «Fall-Screening-Tool (FaST)». Der Anglizismus ist Programm: Eine Fast-Triage soll nicht länger als 20 Minuten dauern. Schliesslich gilt es, möglichst effizient hunderte von Gefängnisinsassen bezüglich ihrer möglichen Rückfallgefahr abzuklären.
Die Fast-Software wird mit Informationen zum aktuellen Delikt und zu allen Vorstrafen gefüttert. Aufgrund derer teilt ein Algorithmus den Straftäter in eine der drei Gruppen ein. Bedient wird das Tool mit einer Web-Applikation, auf die nur die zuständigen Justizbehörden Zugriff haben.
Unerklärliche kantonale Unterschiede
Eine Erhebung von SRF Data zeigt nun erstmals, dass Deutschschweizer Kantone seit 2016 über 4500 Straftäter «gefastet» haben, wie es im Jargon heisst. Die Auswertung der Daten zeigt: 40 Prozent dieser Straftäter sind B- oder C-Fälle. Pikant: Der Entwickler des Tools, das Zürcher Amt für Justizvollzug, geht auf seiner Website von lediglich 30 Prozent B- und C-Fällen aus.
Thomas Manhart, Amtsvorsteher, sagt dazu: «Für mich ist es grundsätzlich keine schlechte Botschaft, wenn mehr Straftäter als angenommen genauer überprüft wurden. Das heisst unter anderem mehr Sicherheit.» Für ihn wäre es problematischer, würden weniger Straftäter überprüft werden als zuvor angenommen.
Etwas, das man sich auch beim Zürcher Justizvollzug nur schwer erklären kann, sind die grossen kantonalen Unterschiede. So machen B- und C-Fälle im Kanton Zürich lediglich 36 Prozent aus, im Kanton Luzern sind es hingegen satte 56 Prozent. In anderen Kantonen sind die Quoten sogar noch höher, aber wegen der geringen Fallzahlen nur beschränkt aussagekräftig.
Strafrechtler: Algorithmus eignet sich «nicht besonders gut»
Die Universität Zürich hat den Screening-Algorithmus 2013 auf seine Treffsicherheit überprüft . Die Forscher haben über 600 Straftäter, die Anfang Nullerjahre im Gefängnis sassen, nachträglich kategorisiert. Die Frage, die es zu klären galt: Wie gut kann das Tool zwischen harmlosen und später rückfälligen Tätern unterscheiden?
Die Studie kam zum positiven Fazit, die Software sei ein «zuverlässiges und valides» Instrument. Die Resultate wurden erst kürzlich auch in Form einer Dissertation publiziert . Dort zieht die Autorin Mirjam Loewe-Baur jedoch etwas differenziertere Schlüsse.
Der Algorithmus generiere eine beträchtliche Anzahl Fehlprognosen. Tatsächlich zeigt ein Blick auf die konkreten Zahlen: Nur gerade ein Viertel derer, die das Tool in die Kategorie der Gewalt- und Sexualstraftäter einteilte, wurde später mit einem Gewalt- oder Sexualdelikt rückfällig.
Loewe-Baur schreibt in ihrem Fazit: «Die Falltypologie des Fall-Screening-Tools animiert zum Labeling von Personen.» Das Label C laste während des ganzen Vollzugs auf dem Straftäter, eine «Verbesserung» zu A oder B sei nicht möglich.
Auch der emeritierte Strafrechtsprofessor Martin Killias übt Kritik. In einem Kommentar schreibt er, dass sich das Fast-Tool nicht «besonders gut eignet, Gefährlichkeit [...] zu prognostizieren.» Killias kritisiert insbesondere, dass der Algorithmus ganze 83 Prozent der Personen, die später mit einem Sexual- und Gewaltdelikt rückfällig wurden, gar nicht als C-Fälle erkannt hatte.
Amtsvorsteher Thomas Manhart hält dagegen, dass diese 83 Prozent in der Regel nicht wegen einem Sexual- oder Gewaltdelikt erstverurteilt wurden, sondern wegen einem anderen Delikt – beispielsweise einem Strassendelikt. Erst ihr Rückfalldelikt war dann ein Gewalt- oder Sexualdelikt. Solche Ersttäter zu erkennen sei kaum möglich. Zudem seien diese mit eher geringfügigen Delikten rückfällig geworden – an solchen Tätern sei man weniger interessiert.
Transparenz? Erst auf Gesuch hin
Der genaue Mechanismus des Algorithmus war bis anhin nicht bekannt. So konnte niemand nachvollziehen, welche Kriterien welche Rolle spielen bei der Einteilung in die Kategorien A, B oder C. Erst nachdem SRF Data mit Verweis auf das Öffentlichkeitsprinzip die Herausgabe der Funktionsweise der Software verlangte, teilte das Zürcher Amt für Justizvollzug mit, wie der Algorithmus im Detail funktioniert.
Die Dokumente, die SRF hier erstmals öffentlich macht, zeigen, dass das Amt den Algorithmus Ende 2017 in bestimmten Punkten angepasst hat. Neu haben Delikte im Bereich häuslicher Gewalt und jugendanwaltschaftliche Einträge kein spezielles Gewicht mehr.
Das zeigen die herausgeforderten Dokumente
Seit dieser Anpassung gab es jedoch keine weitere Evaluation der Software. Es ist deshalb nicht klar, wie zuverlässig der veränderte Algorithmus heute funktioniert.
Das Zürcher Amt für Justizvollzug lässt dazu verlauten, die betroffenen Kriteren seien nur selten zur Anwendung gekommen – sie könnten deshalb weggelassen werden. Dies führe zu einer nochmals vereinfachten Anwendung des Fast-Tools. Ausserdem habe man vor, den genauen Mechanismus des Algorithmus noch in diesem Jahr im Rahmen einer wissenschaftlichen Publikation «differenziert zu erläutern».
Romandie und Tessin misstrauen dem System
Nach tragischen, aufsehenerregenden Rückfällen wird immer wieder die Forderung nach einem einheitlichen Schweizer Strafvollzug laut. Das ROS-Modell ist ein Schritt in diese Richtung, ohne dass dafür kantonale Gesetze angepasst werden – oder sogar ein Gesetz auf Bundesebene geschaffen werden müsste.
So betonen mehrere Behördenvertreter gegenüber SRF: Der grosse Vorteil von ROS sei, dass nun alle vom gleichen reden– dass es kaum zu Informationslücken komme, wenn zum Beispiel ein Insasse in eine andere Strafanstalt versetzt werde.
Doch: Das lateinische Konkordat, zu dem die französische Schweiz und das Tessin gehören, will ROS in dieser Form nicht übernehmen. Lieber entwickelt man ein eigenes System, das frühestens im Jahr 2020 operativ sein wird. Ein paar Jahre später könne man dann sagen, ob es sich mit ROS vereinbaren liesse, erklärt Blaise Péquignot, Generalsekretär des lateinischen Konkordats, auf Anfrage von SRF.
Auf die Frage, wieso ROS nicht auf die lateinische Schweiz übertragbar sei, sagt er: «Bei uns soll der Straftäter nicht rein aktenbasiert abgeklärt werden.» Eine Einvernahme des Insassen sei fundamental.
Die Risikoabklärung aus der Distanz findet auch die Luzerner Kantonsrichterin Marianne Heer stossend. Das Bundesgericht habe wiederholt verlangt, dass man beim Verfassen von Gutachten direkt mit den Betroffenen in Kontakt stehen müsse – um sich selber ein Bild zu machen. «Dieses Teilnahmerecht wird bei den ROS-Risikoabklärungen nicht gewährt.»
Dem widerspricht Thomas Manhart: «Es wäre sehr ineffizient, wenn man mit den tausenden von Fällen, die in einem ersten Schritt überprüft werden, ein Gespräch führen würde.» Bei ROS ginge es nicht um ein Gutachten, sondern um eine Triage. Der Gefängnisinsasse habe jederzeit das rechtliche Gehör und zwar dann, wenn es um einen Entscheid gehe, den ihn direkt im Vollzug betreffe.
Die Ausweitung des Zürcher Modells
Die Fast-Triage ist jedoch nur die Vorstufe zur eigentlichen Rückfallprognose im ROS-System. Alle C-Fälle, also potenziell rückfällige Sexual- und Gewaltstraftäter, werden an die eigens eingerichteten Abteilungen forensische Abklärungen (AFA) in Zürich und Bern geschickt, um dort auf Herz und Nieren überprüft zu werden – ebenfalls aktenbasiert, ohne mit dem betroffenen Straftäter zu sprechen.
Gemäss SRF-Recherchen setzen die dort tätigen Psychologen und Forensiker in fast allen Fällen die Prognose-Software «Fotres» ein. Diese wird mit hunderten von Datenpunkten aus den Akten des Täters gefüttert. Darauf generiert sie automatisch Interventionsempfehlungen und Therapievorschläge. Eine sogenannte Risikoabklärung dauert in der Regel zwei Tage. Kostenpunkt: 3500 Franken.
Fotres wurde von Frank Urbaniok, dem ehemaligen Chefarzt des Zürcher Amts für Justizvollzug, entwickelt. Mit seiner Firma Profecta vertreibt er die Software kommerziell, weshalb sie nicht dem Öffentlichkeitsgesetz untersteht. Das Zürcher Amt für Justizvollzug lässt aber verlauten, dass jeder Einsicht in den Algorithmus hinter Fotres haben könne.
Nun zeigt sich: Im Rahmen von ROS werden jährlich mehrere hundert Gefängnisinsassen mit Fotres durchleuchtet. Nicht mehr nur in Zürich, sondern in der gesamten Deutschschweiz.
Je nach Prognose müssen die C-Fälle an bestimmten Interventionen teilnehmen: sich zum Beispiel mit ihrem Delikt auseinandersetzen oder eine Therapie besuchen, um ihre Aggressionen in den Griff zu bekommen.
Führt die ROS-Prognose auch zu einem strengeren Vollzug, weniger Hafturlaub und längerem Gefängnisaufenthalt? Und kann damit tatsächlich das Rückfallrisiko gesenkt werden? Statistische Daten werden es erst in ein paar Jahren zeigen.