Ein dramatisches Beispiel zur Rolle eines reformierten Pfarrers bei Verdingkindern klingt ungefähr so:
- In einer Landgemeinde kam ein Mädchen als Verdingkind ins Haus des Pfarrers. Dort wurde es geschlagen und misshandelt. Das wussten alle im Dorf. Aufzumucken traute sich aber doch niemand. Schliesslich war es der Pfarrer.
Klar ist: Die reformierte Kirche war am Schicksal der Verdingkinder beteiligt – genauso wie die katholische. Das zeigt auch eine neue Publikation des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbunds (SEK), die sich mit der eigenen Rolle bei diesem tragischen Kapitel der schweizerischen Geschichte beschäftigt.
Fehlende Kontrolle
Erforscht ist die Rolle der Protestanten aber deutlich weniger als diejenige der Katholiken. Das liegt laut der Historikerin Loretta Seglias an der Struktur der Kirche: «Im protestantischen Kontext waren mehrere unterschiedliche Organisationen beteiligt. Sie standen nicht unter einem gemeinsamen Dach, sondern haben sich einzeln engagiert.» Das mache die Ereignisse schwerer fassbar.
Die fehlende Kontrolle ist einer der Schlüssel, weshalb so viele Möglichkeiten des Missbrauchs bestanden haben.
Eine grosse Gemeinsamkeit gebe es aber: das Versagen der Gemeinden. Diese unternahmen selbst nichts gegen die Armut und überwachten diejenigen nicht, denen sie das Feld überliessen. «Die fehlende Kontrolle ist einer der Schlüssel, weshalb so viele Möglichkeiten des Missbrauchs bestanden haben», sagt Seglias. Häufig seien die Pfarrer nicht kontrolliert worden. Das habe Fälle wie das einleitende Beispiel überhaupt ermöglicht.
Armut als Sünde
Wie oft reformierte Pfarrer so direkt an Missbrauch beteiligt waren, ist offen. Dass es aber Beispiele gibt, ist laut Seglias aussagekräftig. «Es zeigt die Moral-Instanz des Pfarrers aber auch die Möglichkeit, dass eine Person einen so grossen Einfluss auf die Fremdplatzierung eines Kindes oder eines Jugendlichen haben kann», sagt sie.
Armut ist in der Regel selbstverschuldet. Arme müssen zur Arbeit angehalten werden.
Ausgesetzt waren die Verdingkinder nicht nur Pfarrern. In städtischer Umgebung kümmerten sich oft evangelische Frauenvereine um die Fremdplatzierungen. Der «Verband der Frauenvereine zur Hebung der Sittlichkeit» hatte um 1900 ungefähr 26'000 Mitglieder und war damit die grösste Frauenorganisation im Land. Das Wertesystem, das sie vertrat, lässt sich schon aus ihrem Namen ableiten: Armut ist in der Regel selbst verschuldet, Arme müssen zur Arbeit angehalten werden.
Welchen Einfluss hat das reformierte Wertesystem?
Das habe als Begründung gedient, wieso man «Leute in Arbeitsanstalten interniert und Familien auseinandergerissen hat», sagt Seglias. Dass diese Haltung im reformierten Milieu immer wieder auftaucht, bringt laut ihr die Frage auf, wie stark die reformierte Theologie das Verdingen der Kinder sogar gefördert hat.
Die Anstrengungen der reformierten Kirche, die Verdingkinder-Geschichte aufzuarbeiten, leitet Simon Hofstetter. Er ist beim SEK zuständig für Gesellschaft. Dass die reformierte Theologie die Verdingungen antrieb, glaubt er nicht. Reformierte Persönlichkeiten seine auf vielerlei Arten beteiligt gewesen. «Reformierte waren voll und ganz Teil der Gesellschaft und haben deren Werter mitgetragen», sagt er.
Wir wünschen uns, dass auch die historische Forschung diesem Thema in einer grösseren Breite nachgeht.
Trotz der unterschiedlichen Einschätzung sei die Kirche froh, mit der neuen Publikation selbst den Anstoss für die Auseinandersetzung mit der eigenen Verdingkinder-Geschichte gegeben zu haben. Man wolle Verantwortung tragen und die Aufarbeitung weiter treiben. Dabei hofft man auch auf Unterstützung. «Wir wünschen uns, dass auch die historische Forschung diesem Thema in einer grösseren Breite nachgeht», sagt Hofstetter.
Das ist durchaus zu erwarten. Der Nationalfonds hat in diesem Jahr unter dem Titel «Fürsorge und Zwang» ein Programm über die Verdinkindergeschichte gestartet.