Am Samstag kam es in Spreitenbach zu einer Massenschlägerei mit rund 30 Beteiligten. Ein 16-Jähriger stach dabei mit einem Messer auf einen anderen Jugendlichen ein. Grund für die Gewalt-Eskalation soll ein Banden-Streit zwischen Jugendlichen aus Dietikon (ZH) und Jugendlichen aus Spreitenbach (AG) gewesen sein.
Für den Jugendpsychologen Allan Guggenbühl kommt es nicht überraschend, dass sich junge Männer über Gewalt und Rivalität eine Identität suchen. Gerade die vielen «heimatlosen» Jugendlichen in der Schweiz fühlten sich dadurch angesprochen.
SRF News: Was glauben Sie, waren die Ausschreitungen in Spreitenbach geplant?
Allan Guggenbühl: Es handelt sich hier um eine Art gruppenpsychologisches Phänomen. Man kann nicht sagen, dass das von jemandem gezielt gesteuert wird. Plötzlich ist etwas da, bei dem sich alle einig sind. Es ist plötzlich etwas «ume», es ist wie ein Mythos, der dann gepflegt wird in der Gruppe. Meistens ist es überhaupt nicht organisiert.
Also eher spontan, aber mit einem guten Nährboden?
Den Nährboden bildet sicher die Gruppe der Jugendlichen, die nicht integriert ist, die Anschluss sucht. Die Jugendlichen suchen diesen Anschluss oft über Rivalität, über etwas Aggressives. Es ist diese Masse von Jugendlichen, die auf eine Art heimatlos sind und die einen Ort suchen, an dem sie zuhause sein können.
Der Migrationshintergrund kann also eine Rolle spielen?
Der Migrationshintergrund spielt eine Rolle. Es gibt viele Jugendliche in der Schweiz, die sozusagen irgendwo aufwachsen. Sie kommen vielleicht aus Eritrea oder einem anderen Land und wollen wissen, wer sie sind. Das erste was sie machen, ist natürlich, dass sie sich die Umgebung anschauen und Differenzierungsmerkmale suchen. Wenn sie diese finden, dann versuchen sie sich abzugrenzen.
Wie erklären Sie sich die Ausschreitungen in Spreitenbach?
Es sind Gemeinden mit einem hohen Immigrationsanteil. Es sind Gemeinden, die sich ähnlich sind. Da gibt es natürlich einen Konkurrenzkampf: Wer ist cooler, wer ist mehr Ghetto-Jugend. Man will quasi die coolste Gemeinde sein. Diese Rivalität wird von Jugendlichen oft auch gesucht. Es werden Differenzierungs-Merkmale gesucht, damit man sich profilieren kann.
Was ist das Ziel dieser Jugendlichen?
Sie wollen sich eine grossartige Geschichte geben. Sie wollen sich aufbäumen, sie wollen sich stärken. Das Ziel ist, sich als Gruppe wohlzufühlen.
Die jungen Erwachsenen sind auf der Suche nach einer kollektiven Identität.
Man darf nicht vergessen: Jugendliche wollen nicht nur eine eigene Identität, sondern sie wollen auch eine kollektive Identität. Die jungen Erwachsenen sind auf der Suche nach dieser kollektiven Identität. Das ist eigentlich das, was dahinter steckt.
Jugendliche, die sich in Gruppen prügeln, sind eigentlich nichts Neues.
Das Phänomen, dass junge Leute – insbesondere junge Männer – sich über Gewalt, über Banden, über Rivalitäten eine Identität suchen, ist nicht neu. Historisch betrachtet kennt man das zum Beispiel aus dem Kanton Graubünden. Da haben die Jugendlichen aus Untervaz gegen die Jugendlichen aus Obervaz gekämpft.
Was ist denn heute anders im Vergleich zu früher?
Was anders ist, sind die Differenzierungsformen. Man kann sagen, die Metaphern, die verwendet werden. Heute sprechen die Jugendlichen ja häufig von Bronx. Die Ghetto-Jugend in den Vereinigten Staaten dient vielen jungen Erwachsenen als Identifikator. Die Jugendlichen solidarisieren sich mit ihr und haben das Gefühl, sie lebten auch in einem solchen Ghetto.
Wie kommen Sie darauf?
Es ist beispielsweise interessant zu sehen, was die Jugendlichen so mit dem Handy aufnehmen, wie sie posieren. Sie suchen sich dann als Hintergrund oftmals die absolut heruntergekommensten Orte aus, dort wo sie wohnen, damit sie der Umwelt beweisen können: Ich lebe auch in einem Ghetto, ich bin quasi auch ein Held.
Sind ihnen ähnliche Fälle wie in Spreitenbach bekannt?
Mir fällt auf, dass ich in den letzten drei, vier Monaten häufiger Anfragen erhalten habe von Kleinstädten, die mit derselben Problematik kämpfen. Ich habe beispielsweise mit einer kleineren Gemeinde zu tun, die das Problem hat, dass in der Schule nicht mehr unterrichtet werden kann, weil die Banden beginnen, dort ihre Kämpfe auszutragen.
Was kann man tun, um Gewalteskalationen wie in Spreitenbach zu verhindern?
Man muss sehen, wir haben in der Schweiz eine grosse Zahl nicht integrierter Jugendlicher. Da genügt es nicht, dass man nur auf der persönlichen Ebene handelt. Für diese Jugendlichen muss man etwas machen.
Man muss den Jugendlichen Mythen geben.
Man muss ihnen Integrationshilfen geben. Und zwar nicht einfach Programme, sondern grosse Geschichten, Mythen.
Was meinen Sie damit?
Viele Migranten erzählen mir, die Schweizer würden nichts von sich erzählen. Was ist denn überhaupt die Schweiz? Was ist überhaupt das Limmattal, was ist überhaupt der Aargau oder Zürich? Da muss man Geschichten geben, Begründungen, Wert geben, damit sich die Jugendlichen identifizieren oder eben auch abgrenzen können. Da besteht ein grosser Nachholbedarf.