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Schlepper-Augenzeugenbericht «Ich bin im LKW zweimal zusammengebrochen»

Es ist kaum vorstellbar: Mehrere Stunden stehend, auf engstem Raum ohne Fenster, ungesichert und ohne Verpflegung im Laderaum eines Lastwagens. In einem Zustand der Erschöpfung wurden am Montag 23 Flüchtlinge von der Kantonspolizei Nidwalden entdeckt.

Der Laderaum eines Kleinlasters.
Legende: In diesem Lastwagen drängten sich 23 Menschen auf engstem Raum. Keystone / Kantonspolizei Nidwalden

Einer, der eine ähnliche Situation hautnah erlebt hat, ist Reza Hosseini. Er wuchs im Iran auf und lebte dann in Afghanistan. Hosseini nahm aus Verzweiflung jedes Risiko in Kauf, um nach Europa zu gelangen. Seit 2018 arbeitet er als Integrationshelfer in Luzern und hilft anderen, ihre Flucht zu verarbeiten. Das ist seine Geschichte.

Reza Hosseini

Integrationshelfer im Luzerner Flüchtlingstreff Hellowelcome

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Was kam Ihnen in den Sinn, als Sie vom jüngsten Schleppervorfall in der Schweiz gehört haben?

Reza Hosseini: In der Schweiz fragt man sich: Wie kommen die Leute eigentlich in die Schweiz? Und ich muss sagen, ich bin genauso in die Schweiz gekommen. Ich habe das selber erlebt und das ist traurig – für mich auch. Leider haben diese Leute keine andere Möglichkeit und können nicht legal in die Schweiz oder nach Europa einreisen.

Denn ich hatte beispielsweise keinen iranischen Pass und konnte deshalb gar nicht legal nach Europa reisen. Dann habe ich einen Schlepper gesucht. Und im Lastwagen über zwei bis drei Tage ohne Essen und Trinken, das ist wirklich gefährlich. Ich schätze, dass 90 Prozent eine solche Reise nicht überleben. Man hört davon nicht so viel, aber es passiert jeden Tag. Es sind immer die gleichen Geschichten auf der Flucht.

Wie war die Situation bei Ihnen?

Jeder weiss, dass in Afghanistan seit über 40 Jahren Krieg herrscht. Und ich bin im Iran aufgewachsen, dort hatte ich ebenfalls keinen Ausweis. Dort wurde ich auch als minderwertige Person aus einem Drittstaat behandelt und das war schrecklich, denn ich hätte keine Zukunft gehabt. Irgendwann habe ich gedacht, ich muss nach Europa. Dann habe ich von Kollegen gehört, dass man auch schwarz nach Europa reisen kann. Wir haben dann mit einem Schlepper gesprochen und ihn bezahlt – wir sahen keine andere Möglichkeit.

Zuerst sind wir mit dem Taxi an die Grenze zur Türkei gefahren, dann liefen wir zu Fuss über dreizehn bis vierzehn Stunden durch die Berge bis zum ersten türkischen Dorf. Von dort sind wir mit dem Car bis nach Istanbul gefahren. Weil ich kein Geld hatte, habe ich in der Türkei schwarzgearbeitet, damit ich einen Schlepper zahlen kann, der uns zeigt, wie wir weiter nach Europa kommen.

Nach Afghanistan kann ich nicht zurück, es herrscht Krieg, im Iran werde ich nicht als vollwertiger Mensch akzeptiert, also ich muss entweder auf Europa oder ich sterbe.

Der nächste Schritt war, mit dem Gummiboot über das Mittelmeer. Dort habe ich es zehnmal versucht und ich bin dem Tod jedes Mal nur knapp entkommen. Das erste Mal war schrecklich und ich habe mir gesagt, ich versuche es nie wieder. Dann habe ich mir in der Türkei im Asylzentrum überlegt: Nach Afghanistan kann ich nicht zurück, es herrscht Krieg, im Iran werde ich nicht als vollwertiger Mensch akzeptiert, also ich muss entweder auf Europa oder ich sterbe.

Dann sind wir mit dem Gummiboot bis Griechenland gekommen und von dort haben wir erneut einen Schlepper gesucht und bezahlt. Hinterher sind auch wir mit dem einem LKW nach Italien gefahren. Im LKW bin ich zweimal zusammengebrochen, weil ich nichts zu trinken und zu essen hatte. Dann sind wir von Italien mit dem Zug bis Como gefahren und danach weiter mit dem Zug in die Schweiz. An der Grenze wurde ich dann festgenommen von der Polizei. Insgesamt hat die Reise zehn Jahre gedauert, bis ich in der Schweiz angekommen bin.

Mit welchen Kosten muss man da rechnen?

Es ist illegal, also musst du mit den Schleppern handeln. Damals im Jahr 2013 habe ich 6000 bis 7000 Franken gezahlt, bis ich in der Schweiz war. Aber es gibt verschiedene Arten, nach Europa zu gelangen. Mit dem Flugzeug, mit dem Lastwagen, mit dem Gummiboot, mit dem Car, mit dem Schiff. Diejenigen, die mehr Geld haben, kommen meistens mit dem Flieger und einem gefälschten Pass.

Würden Sie es rückblickend wieder machen?

Ich würde das sicher nie wieder machen. Es ist wirklich gefährlich, aber damals hatte ich keine andere Möglichkeit und jetzt verstehe ich Leute, die auf diese Art in die Schweiz oder nach Europa kommen. Der Grund wieso die Menschen nach Europa flüchten ist, weil sie in Afghanistan oder im Iran in Gefahr sind. Jeder hat eine andere Geschichte, doch die meisten können nicht in ihren Heimatländern bleiben.

Bis zu zehn Mal höhere Dunkelziffer

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Die jährlichen Verdachtsfälle für Schleppertätigkeiten haben letztes Jahr mit knapp 480 einen neuen Rekord gebrochen. Bis Juli 2022 wurden bereits 224 Fälle registriert, was darauf hindeutet, dass wohl auch dieses Jahr ähnlich ausfallen wird. Das sind die offiziellen Zahlen vom Bundesamt für Zoll und Grenzsicherheit (BAZG), die aber nur jene Fälle abbilden, welche vom Grenzwachtkorps entdeckt wurden.

Experten wie Gianni D'Amato gehen davon aus, dass die Dunkelziffer um ein vielfaches höher ist. Der Professor für Migration und Staatsbürgerschaft an der Universität Neuenburg hat im Rahmen seiner Forschung vor zehn Jahren herausgefunden, dass die Anzahl solcher Fälle mindestens zehnmal höher sein muss, als die offiziellen Zahlen vorgeben. Er geht davon aus, dass eine illegale Einreise in die Schweiz oder in die Europäische Union die Menschen 10'000 Franken oder sogar mehr kostet.

Das Gespräch führte Luca Laube.

10vor10, 08.09.2022, 21:50 Uhr ; 

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