Merisa ist 15 Jahre alt und steht kurz vor dem Ende ihrer Schulzeit. Wenn sie über ihren Banknachbarn spricht, sagt sie: «Die Schule hat viel zu unserer Freundschaft beigetragen.» Merisa geht in die dritte Klasse des Oberstufenschulhauses Rosenau in Winterthur. Sie sitzt neben ihrem besten Freund. Das geniesse sie. Die Nachbarschaft in der Schulbank habe Freundschaften gefestigt. «Aufs Lernen hatte das aber wenig Einfluss.»
Damit bestätigt sie, was die Wissenschaft herausgefunden hat. Felix Elwert ist Professor für Soziologie an der amerikanischen Universität Wisconsin-Madison. Er hat gemeinsam mit anderen Forschern mehrere Aufsätze zum Thema Sitznachbarn in der Schule publiziert. Dafür hat er eine gross angelegte Studie mit insgesamt rund 3000 Schülerinnen und Schülern in Ungarn durchgeführt.
Den Schulerfolg kann man nicht mit dem ‹richtigen› Sitznachbarn beeinflussen.
Seine wichtigste Erkenntnis: «Der Sitznachbar hat keinen messbaren Einfluss auf die Noten. Allerdings kann zwischen Sitznachbarn eine Freundschaft entstehen.» Viele Lehrpersonen und auch Eltern würden davon ausgehen, dass es schwachen Schülern helfe, wenn man sie neben starke Schülerinnen setze. «Das ist plausibel. Diese Vermutung hat sich aber kaum bestätigt», sagt Elwert.
Schulerfolg könne man nicht mit dem «richtigen» Sitznachbarn beeinflussen. Einen kleinen Effekt hat die Wissenschaft allerdings doch gefunden: Zwei leistungsstarke Schüler scheinen laut Elwert voneinander zu profitieren, wenn sie nebeneinander sitzen. «Das eigene Fortkommen ist aber eher davon abhängig, was man selber kann oder von zu Hause mitbekommen hat.»
Wer neben wem sitzt, ist im Schulzimmer oft ein emotionales Thema – besonders nach den Sommerferien. Die beiden langjährigen Lehrerinnen Patricia Locher und Carmen D'Alpaos, die im Schulhaus Rosenau unterrichten, machen sich viele Gedanken zum Thema.
Wenn sie die Sitzordnung bestimmt, achtet Locher darauf, dass sich die Schülerinnen und Schüler gut konzentrieren können und nicht abgelenkt werden. Und genauso wichtig sei es, «dass sie sich sehr wohl fühlen». Denn ohne das gehe es nicht.
In der Praxis habe sich bewährt, was die Wissenschaft herausgefunden hat: Locher setzt gerne zwei leistungsstarke Schülerinnen und Schüler nebeneinander. «Zum Beispiel in der Mathematik. Dann können die beiden davonziehen. Die schwächeren bekommen die Hilfe ja ohnehin von mir.»
Flexible Arbeitsplätze im «Churer Modell»
Carmen D'Alpaos arbeitet nach dem sogenannten «Churer Modell», weil sie eine Alternative gesucht habe zu den Schulbänken in Reihen hintereinander.
Am Anfang der Stunde sitzen die Schülerinnen und Schüler vorne in einem Kreis zusammen, während die Lehrerin etwas erklärt. Dann arbeiten sie individuell an einem frei wählbaren Ort weiter: an einem grossen runden Tisch, Einzeltischen oder Gruppentischen. «So sind alle Lernmöglichkeiten vorhanden», sagt D'Alpaos. Ihre Rolle habe sich dadurch verändert: «Ich bin eher ein Coach, der bei den Schülerinnen und Schülern vorbeigeht.» Deshalb arbeite sie so gerne mit dem «Churer Modell».
Die beiden Schülerinnen Amina (15) und Israa (16) sitzen in Carmen D'Alpaos' Klasse gerne nebeneinander. Einerseits, weil sie sich gut verstehen, andererseits aber auch, weil sie gut nebeneinander arbeiten können. Und Israa betont: «Wenn ich eine Frage habe, hilft Amina mir.»