«Wie ein böser Störenfried lastet die Wand über dem freundlichen Tal von Grindelwald. Niemand liebt sie, und wer sie kennt, fürchtet sie», sagte einst der Schauspieler und Bergsteiger Luis Trenker über die Eigernordwand.
Vor 75 Jahren nehmen es vier Bergsteiger aus Österreich und Deutschland mit dem Störenfried auf. Mit Erfolg. Am 24. Juli 1938, an einem Sonntagnachmittag, gelang ihnen das Unmögliche: das Durchklettern der berüchtigten Eigernordwand.
Der Gipfel selbst wird zwar 1858 – zur Zeit des Goldenen Zeitalters des Alpinismus – von drei Schweizern bezwungen. Allerdings über die Westflanke. Der Weg über die Nordwand aber scheint lange Zeit unbegehbar. Sie wird zum letzten Problemfall der Alpen.
Nachdem in den 30er-Jahren des 20. Jahrhunderts zu viele Menschen an der Wand ihr Leben verlieren, zieht die Regierung die Reissleine. Die Eigernordwand darf fortan nicht mehr bestiegen werden. Für Alpinisten kein Hindernis.
Im Tal rechnete man mit dem Schlimmsten
Und so machen sich an besagtem Juli 1938 Fritz Kasparek und Heinrich Harrer aus Österreich und Andreas Heckmair und Ludwig Voerg aus Deutschland auf den Weg Richtung Gipfel. Durch die Nordwand. Kasparek und Harrer starten bereits am 21. Juli, werden dann aber von Heckmair und Voerg eingeholt, die am 22. losmarschieren. Die beiden Deutschen verfügen über die bessere Ausrüstung. Die vier schliessen sich zusammen, um sich beim Aufstieg nicht gegenseitig zu gefährden. Aus Konkurrenten werden Freunde. Nach drei Tagen erreichen die vier am Sonntagnachmittag gegen 15.30 Uhr den Gipfel.
Eine Sensation, mit der niemand gerechnet hat. Journalisten aus aller Welt, die den erneuten Besteigungsversuch von der Kleinen Scheidegg aus beobachten, haben sich auf ein Drama eingestellt – und werden überrascht. Das letzte Problem der Alpen ist keines mehr. Und damit vom Tisch? Von wegen.
Die «NZZ» schreibt am 26. Juli 1938: «Ob es wirklich Ruhe geben wird, muss abgewartet werden. Leider lehrte die Erfahrung, dass gerade solche Erstbesteigungen eine Kette von ‹Nachahmungen› nach sich ziehen, wobei es die Draufgänger in der Regel auf die rekordmässige Verkürzung der Aufstiegszeit absehen.»
Aus drei Tagen werden zwei Stunden
Die Vorausahnung wird Wirklichkeit. Die Nordwand hat an ihrer Anziehungskraft nichts verloren. Diese unberechenbaren 1650 Höhenmeter, verteilt auf eine Kletterstrecke von 4000 Metern, lockt Bergsteiger noch immer an. Durchschnittlich über 100 pro Jahr. Über 50 haben den Versuch, die Nordwand zu durchklettern, bislang mit ihrem Leben bezahlt.
Statt drei Tage benötigen Alpinisten heute etwa zwei Tage. Mit wenigen Ausnahmen: Speedbergsteiger wie der Urner Dani Arnold erreicht 2011 den Gipfel via Nordwand in 2 Stunden 28 Minuten. Das entspricht pro Minute 27 Höhenmetern. Ein Rekord.
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Bild 1 von 5. Heinrich Harrer, Ludwig Voerg, Andreas Heckmair und Fritz Kasparek (v.l.) haben den Gipfel über die Nordwand bezwungen. Was in einer Gemeinschaftsarbeit endete, begann im Konkurrenzkampf. Bildquelle: Keystone.
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Bild 2 von 5. Harrer (im Bild) und Kasparek starteten bereits einen Tag vor den beiden Deutschen. Da letztere aber die bessere Ausrüstung besassen, holten sie die Österreicher schnell ein. Statt sich am Berg gegenseitig zu gefährden, schlossen sich die beiden Teams zusammen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 3 von 5. Der Versuch der Österreicher und Deutschen war im Tal ein Medienereignis. Die Zuschauer rechneten eigentlich mit einer neuerlichen Tragödie, nachdem schon mehrere Menschen zuvor ihr Leben am Berg verloren. Bildquelle: Keystone.
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Bild 4 von 5. Die Ausrüstung von damals: Dank der Steigeisen, die Heckmair für sich und seinen Kollegen Vörg besorgte, gelang ihnen ein schneller Durchstieg durchs Eis. Deshalb auch konnten sie die beiden Österreicher einholen. Bildquelle: Keystone.
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Bild 5 von 5. 1988, fünfzig Jahre nach ihrer Erstbesteigung, enthüllen Heckmair (l.) und Karrer einen Gedenkstein, der der Toten am Berg erinnert. Bildquelle: Keystone.