SRF: Die Armut in der Schweiz stagniert. Wie erklären Sie sich diese Zahlen?
Peter Streckeisen: Das ist nicht überraschend – Armut verschwindet nicht von selbst. Sie ist ein Phänomen, das man über längere Zeiträume anschauen muss.
Wie beurteilen Sie die Entwicklung langfristig?
Wenn wir zurückschauen, sehen wir, dass in den 90er-Jahren eine Veränderung stattgefunden hat. Früher war die Armut etwas, das eigentlich nur noch am Rande der Gesellschaft zu existieren schien. Man dachte, sie würde verschwinden.
Und jetzt hat sie wieder zugenommen. Wir haben eine Zunahme der Armut, der Erwerbslosigkeit, mehr Leute, die IV-Leistungen beziehen müssen. Und wir haben auch mehr Leute, die arm sind, obwohl sie arbeiten.
Wie ist diese Entwicklung zu erklären?
Die Entwicklung der Armut vom Rand ins Zentrum der Gesellschaft hat mehrere Ursachen. Zum einen eine Wirtschaftsdynamik, die erlahmt ist. Dann haben wir internationale Entwicklungen, einen härteren Wettbewerb. Wir haben auch eine Krise des Sozialstaates, einen Leistungsabbau im Sozialbereich.
Inwiefern geht dies mit internationalen Entwicklungen einher?
Auf der einen Seite sehen wir ähnliche Entwicklungen in Nachbarländern, wie zum Beispiel die Zunahme von Arbeitslosigkeit und Armut. Auf der anderen Seite sind internationale Phänomene wie beispielsweise die Globalisierung ein Faktor, der Konkurrenz schürt und Armutsphänomene hervorbringt.
Auch der Umgang mit Armut hat sich verändert. Würden Sie das auch so sehen?
Es ist ganz klar – bei der Sozialhilfe hat man begonnen, die Leute systematisch unter Druck zu setzen, damit sie sich weiterbilden. Aber oft bringt das nicht viel. Die Reintegrationschancen sind klein, die Leute geraten unter Druck und fühlen sich unter Umständen schikaniert durch die Sozialämter.
In den Sorgenbarometern ist die Armut ein grosser Faktor – warum?
Das hat eine reale Grundlage. Die Armutsphänomene haben sich weiter ausgebreitet. Es ist auch eine Zunahme der sozialen Unsicherheit feststellbar. Die Zukunftsaussichten sind prekärer geworden, unsicherer. Mehr und mehr Menschen haben Angst, von Armut betroffen zu sein, das ist nicht nur ein Hirngespinst, sondern hat eine reale Grundlage.
Trotzdem hat man das Gefühl, dass wir heute reicher und wohlhabender sind als vor 50 Jahren.
Das ist das Paradox der kapitalistischen Gesellschaft. Es ist zwar mehr da, aber Armut ist etwas Relatives. Sie sagt etwas aus über die relative Stellung des Menschen in der Gesellschaft.
Heute hat man vielleicht ein Auto oder einen Fernseher und kann trotzdem in Armut geraten. Später wird man vielleicht dazu gezwungen, das Auto verkaufen zu müssen.
Schauen wir in die Zukunft. Wie schätzen sie die Entwicklung der Armutszahlen ein?
Ich sehe keinen Ansatz für eine grundsätzliche Veränderung. Man könnte versuchen, politisch die Gewichte anders zu setzen, Reichtum besser verteilen oder die Bedeutung von Arbeit relativieren – zum Beispiel mit einem bedingungslosen Grundeinkommen. Aber solange man an der Wirtschaftspolitik nichts Grundsätzliches ändert, wird sich grundsätzlich nichts verändern.
Das Interview führte Michael Keller.