Der Tag im Frühling 1995 veränderte das Leben der Tschetschenin Zainap Gaschajewa für immer. Russland war wenige Monate zuvor in der kleinen Kaukasusrepublik einmarschiert, um sie daran zu hindern, unabhängig zu werden.
Am 7. April stürmten russische Truppen das Dorf Samaschki im Westen Tschetscheniens, um es, so hiess es, von Rebellen zu säubern. Doch die Säuberung wurde zur Strafaktion, die Leidtragenden waren die Dorfbewohner.
«Ich befand mich ausserhalb des Dorfes, als jemand sagte: Samaschki brennt, die Menschen flüchten», erinnert sich Gaschajewa. «Ich machte mich zusammen mit einer russischen Journalistin auf den Weg dorthin und traf auf die Überlebenden. Es war ein schrecklicher Anblick.» Sie erinnert sich an Menschen in Panik. «Sie sagten: Sie haben meine Mutter, mein Kind, meinen Vater getötet. Ich habe alles verloren und nur mein Leben retten können.»
In diesem Moment, so Gaschajewa, sei ihr die Idee gekommen, den Schrecken zu dokumentieren. «Die Welt wusste nichts davon, was hier geschah. Wir mussten es aufzeichnen.» Sie machte sich erste Notizen, lieh sich am Abend einen Fotoapparat, kehrte am nächsten Tag ins Dorf zurück und nahm alles auf: die Zerstörungen, die verstümmelten und verbrannten Leichen. «Von da an legten ich und meine Kolleginnen die Kamera nicht mehr zur Seite.»
Dorfbewohner halfen, das heikle Material zu verstecken
Aus der spontanen Idee wurde eine systematische Arbeit. Dorfbewohner halfen, das heikle Material zu verstecken, in Erdlöchern oder in Mauern. Nur mit Glück entging es den Zerstörungen der beiden Tschetschenienkriege. Schliesslich schafften Vertrauensleute die Dokumente des Schreckens aus der Kriegszone und dann Stück für Stück aus dem Land – in die Schweiz.
Hier fand Gaschajewa Unterstützung, und hier erhielt sie vor sechs Jahren Asyl. Denn das Ende der Kriegshandlungen bedeutete kein Ende der Gefahr für die Menschenrechtlerin.
Aufnahmen, die nun geheim in Bern lagern
Nun lagern die heiklen Bild- und Tondokumente an einem geheimen Ort in Bern. Die Aufnahmen wurden mit Hilfe der Gesellschaft für bedrohte Völker mühsam gesäubert, systematisiert und digitalisiert. Neues Material kam dazu.
Ein Teil davon ist nun online verfügbar. Das Material sei systematisiert worden, erklärt Christoph Wiedmer von der Gesellschaft für bedrohte Völker. Suche jemand zum Beispiel nach Opfern oder nach einem Ereignis wie der Bombardierung des Marktes in Grosny, sei es möglich zu sehen, ob es beispielsweise Videomaterial dazu gibt.
Online ist nur eine reduzierte Datenbank mit den wichtigsten Angaben. Die Videoaufnahmen selber werden nicht publik gemacht. Und: Was nicht gezeigt wird, sind die Namen der Zeugen. Leute also, die heute noch gefährdet wären, wenn bekannt würde, dass sie ausgesagt haben. Letztendlich geht es bis zur Verantwortung von Generälen, eventuell sogar bis zu Putin.»
Die Spuren des Krieges werden getilgt
Doch eine systematische Aufarbeitung der Kriegsverbrechen ist zurzeit weder in Russland noch in Tschetschenien denkbar. Der tschetschenische Machthaber Ramsan Kadyrow hält loyal zum Kreml, die Spuren des Krieges werden getilgt. Und auch im Westen fehlt der politische Wille, das heikle Thema juristisch anzugehen und sich mit Russland anzulegen. Falls sich dies einmal ändern sollte, wäre das Tschetschenien-Archiv von zentraler Bedeutung.
«All die vielen Aufnahmen warten darauf, dass sich die Gerechtigkeit durchsetzt und dass die Ereignisse von damals richtig bewertet werden», sagt die Menschenrechtlerin Zainap Gaschajewa. «Der Krieg war nicht einfach ein Fehler, wie es heute in Russland heisst, sondern ein Krieg gegen die Bevölkerung Tschetscheniens.»
Aber, so Gaschajewa, es gehe nicht nur um die Verbrechen von damals. Es gehe auch um die Gewalt, die heute noch Menschen in Russland und in Tschetschenien angetan werde. «Wenn wir die Gewalt nicht stoppen, dann breitet sie sich aus wie das Netz einer Spinne. Wir dürfen das nicht einfach als innere Angelegenheiten eines fernen Landes betrachten. Wir müssen Gewalt erkennen, sie verurteilen und ihr entgegentreten.» Zu schweigen und zu vergessen: Für die Menschenrechtlerin ist das keine Option. Sie wird weitermachen – in ihrem Exil in Bern.