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Schweiz Bundesgericht: IV-Rente wegen Schleudertraumata eher möglich

Wer an körperlichen Beschwerden leidet, die sich medizinisch nicht erklären lassen, bekam bisher nur in Ausnahmefällen eine IV-Rente. So hat es das Bundesgericht vor mehr als zehn Jahren beschlossen. Doch nun ändert das Gericht seine Rechtsprechung.

  • Das Bundesgericht gibt «Überwindbarkeitsvermutung» von nicht erklärbaren körperlichen Beschwerden auf.
  • Betroffene sollen neu ein Beweisverfahren durchlaufen, um Arbeitsfähigkeit zu prüfen.
  • Die Beweislast bleibt wie bisher bei der versicherten Person.
  • Therapieverlauf, soziales Umfeld und Persönlichkeit soll in Renten-Entscheid einbezogen werden.

Personen mit Schleudertraumata, Schmerzstörungen, Müdigkeitssyndromen oder anderen chronischen Leiden ohne klare körperliche Ursache erhielten nur in Ausnahmefällen eine IV-Rente. So wollte es ein Grundsatzentscheid des Bundesgerichtes. Nun ändert das Bundesgericht seine Praxis.

Ein zentraler Punkt der Praxisänderung: Das Bundesgericht gibt die «Überwindbarkeitsvermutung» auf. Bisher ging das Gericht davon aus, dass psychosomatische Leiden und andere nicht erklärbare Störungen mit zumutbarer Willensanstrengung überwindbar sind. Deshalb hatten die Betroffenen in der Regel keinen Anspruch auf eine IV-Rente.

Keine rückwirkende Anerkennung der Arbeitsunfähigkeit

Der Entscheid des Bundesgerichts bedeutet, dass Schmerzpatienten nun wieder eine reale Chance auf eine Rente haben. Der Jurist des Behindertenverbands Integration Handicap, Georges Pestalozzi, ist über die Anpassung der Praxis erleichtert: «Die künstliche Unterscheidung zwischen somatoformen Schmerzstörungen und psychischen Krankheiten wie Depressionen war in der Sache grundsätzlich falsch.»

Davon können allerdings nicht alle Betroffenen profitieren. Für Behinderte, denen bisher wegen der Überwindbarkeitsvermutung eine Rente verweigert wurde, kommt das Urteil zu spät. Pestalozzi erklärt: «Eine Präzisierung der Rechtsprechung ist kein Revisionsgrund. Es müsste sich am Gesundheitszustand des Betroffenen etwas geändert haben, damit die IV-Stellen auf ein entsprechendes Gesuch eingehen.»

Neues Verfahren zur Beurteilung

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Aber auch in Zukunft wird es für Schmerzpatienten nicht einfach sein, eine Rente zu erhalten. Gemäss Bundesgericht trägt nämlich nach wie vor die versicherte Person die Beweislast. Das heisst, es ist Sache der Betroffenen, das Gericht von der Behinderung zu überzeugen.

Dazu sollen Betroffene neu ein Beweisverfahren durchlaufen, bei welchem das tatsächlich erreichbare Leistungsvermögen einer Person beurteilt wird. Wie dieses Verfahren im Detail aussehen soll, muss noch erarbeitet werden. Pestalozzi geht davon aus, dass die Antragsteller nachweisen werden müssen, dass sie sich jahrelang behandeln haben lassen: «Das wird die Verfahren in die Länge ziehen.» Gleich wie bisher bleibt aber: Eine Erwerbsunfähigkeit liegt nur dann vor, wenn sie aus objektiver Sicht unüberwindbar scheint.

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Der Basler Psychologe Niklas Baer plädiert für individuelle Fallbeurteilungen.

Mehr Faktoren sollen entscheidend sein

Stärker als bisher soll jedoch laut Urteil beachtet werden, welche Auswirkungen das Leiden auf die Arbeits- und Alltagsfunktionen des Betroffenen hat. Verlaufen Therapien ohne entsprechende Erfolge oder kann die Person auch mit Anstrengung nicht wieder in den Arbeitsmarkt eingegliedert werden, wird ein Urteil zugunsten einer IV-Renten wahrscheinlicher.

Berücksichtigt werden bei einem IV-Entscheid auch die Persönlichkeit, der soziale Kontext, und ob die Einschränkungen in den Bereichen Arbeit und Freizeit gleichermassen auftreten.

Praxisänderung: Gutachten entscheidend?

Die juristische Praxis stiess in der Vergangenheit auf Widerstand. Der Vorwurf: Das Gericht lasse bei der Beurteilung von unklaren Beschwerden wesentliche Erkenntnisse der Medizin ausser Betracht.

Seit Mitte letzten Jahres wird dieser Vorwurf von einem wichtigen Gutachten gestützt. Ein Gutachten, das sich kritisch zur bisherigen Praxis des Bundesgerichts äussert und in Fachkreisen auf grosse Resonanz stösst.

Das Gutachten macht geltend: Richtig ist, dass sich nicht erklärbare Beschwerden nicht nachweisen lassen. Das gilt aber auch für Störungen wie etwa schwere Depressionen. Nicht gerechtfertigt ist deshalb, Beschwerden wie Schleudertraumata oder unerklärbare Schmerzen anders zu behandeln.

Die Expertise wurde laut Tages-Anzeiger im Auftrag der Basler Anwaltskanzlei Indemnis erstellt. Die Kanzlei vertritt Patienten. Das Gutachten findet aber in Fachkreisen grosse Beachtung und gilt als fundiert.

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