Es war eine Geburt mit Hilfe der Saugglocke. Die Mutter erlitt dabei einen Dammriss und leidet seither unter Inkontinenz. Nach Jahren erfolgloser Therapie entschloss sie sich zur Klage gegen ihren Frauenarzt.
Die kantonalen Gerichte gaben ihr Recht. Weil sich in ihrem Patientendossier kein Hinweis auf eine Rektaluntersuchung nach der Geburt fand, gingen die Richter davon aus, dass die Untersuchung nicht durchgeführt und der Riss deshalb nicht entdeckt wurde. Der Frauenarzt sollte der Patientin eine Genugtuung von 60'000 Franken bezahlen.
Änderung der Praxis
Doch nun ändert das Bundesgericht die Praxis. In einem Grundsatzentscheid erklärt es, dass Patientendossiers nicht als Beweismittel für die Gerichte gemacht werden. Sie dienten primär dem Informationsaustausch unter Ärzten.
Eine Untersuchung, die jeder Arzt durchführen sollte, bei der aber kein Gesundheitsproblem festgestellt werde, müsse medizinisch gesehen nicht extra vermerkt werden. Deshalb dürfen die Gerichte das Fehlen eines solchen Eintrags nicht als Beleg für einen Ärztefehler interpretieren.
Diese Verteilung der Beweislast ist sehr gravierend.
Für die Ärzte ist das Urteil positiv, weil sie von Schreibarbeit entlastet werden. Beim Eintrag in die Patientendossiers müssen sie nicht permanent überlegen, wie sie eine allfällige Klage vermeiden könnten.
Schwierigere Beweislast für Opfer von Ärztefehler
Thomas Grieder, Anwalt und Stiftungsrat beim Patientenschutz, dagegen ist konsterniert: «Diese Verteilung der Beweislast ist sehr gravierend.» Unter diesen Bedingungen sei es für Opfer von Ärztefehlern kaum mehr möglich zu belegen, dass eine wichtige Untersuchung nicht durchgeführt wurde.
Denn überspitzt gesagt, bedeute das Urteil Folgendes: «Wenn kein Eintrag in der Krankengeschichte steht, heisst das, der Patient wurde untersucht, aber es wurde nichts festgestellt.»
Genugtuungsgeld durch neues Urteil aufgehoben
Auch der Patientenanwalt findet es sinnvoll, dass Ärzte nicht jeden Handgriff dokumentieren müssen. Aber wenn eine Untersuchung so wichtig sei, dass sie als selbstverständlich gelte, dann müsse das Ergebnis doch in der Akte vermerkt werden, auch damit später andere Ärzte informiert seien.
Wie stark das Urteil des Bundesgerichts die Praxis der Gerichte ändert, zeigt der Fall der Frau, die wegen des Dammrisses unter Inkontinenz leidet: Dass der Arzt die Rektaluntersuchung unterliess, ist nicht zu beweisen und weil auch bei sorgfältiger Untersuchung ein Drittel der Dammrisse nicht entdeckt werden, sei ihm kein Fehler nachzuweisen, meint das Bundesgericht.
Die Genugtuung von 60'000 Franken wird aufgehoben. Stattdessen muss die Patientin dem Bundesgericht 3000 sowie dem Arzt 3500 Franken bezahlen. Und die Rechnung für das kantonale Verfahren folgt.