Es ist ein Horrorszenario: Nach einem Medikamententest mit gesunden Probanden landeten in Frankreich sechs Versuchsteilnehmer im Spital – einer von ihnen wurde für hirntot erklärt und ist inzwischen gestorben. Vier von ihnen leiden unter neurologischen Beschwerden, ihr Zustand ist laut den Behörden aber stabil.
Wie es genau dazu kommen konnte, ist noch gänzlich unklar. Das betroffene Labor der Firma Biotrial in Rennes wurde untersucht. Fest steht bisher: Die Versuchtsteilnehmer hatten einen Wirkstoff des portugiesischen Herstellers Bial erhalten. Um welchen es sich dabei konkret handelt, gibt das Unternehmen allerdings nicht bekannt. Der Vorfall sei «beispiellos», sagte die französische Gesundheitsministerin Marisol Touraine. Trotzdem bestehe kein Grund, sämtliche klinischen Tests zu unterbrechen.
2014: 195 klinische Studien bewilligt
In der Schweiz liegt die Zulassung klinischer Versuche bei der Arzneimittelbehörde Swissmedic. Diese bewilligte im Jahre 2014 insgesamt 195 klinische Studien. Tatsächlich fanden aber mehr Versuche statt. Seit 2014 das neue Humanforschungsgesetz in Kraft ist, dürfen die kantonalen Ethikkommissionen einen Teil der – als unproblematisch angesehenen – Tests selbst bewilligen. Laut dem Bundesamt für Gesundheit haben 2014 wohl zwischen 200 bis 400 klinische Versuche für Arzneimittel stattgefunden.
Bis zur Marktzulassung durchlaufen die Wirkstoffe mehrere Stufen. Das Mittel aus Frankreich befand sich in der sogenannten Phase 1. Nach umfangreichen Tests im Labor (mittels Zellkulturen und/oder Tierversuchen) wird die Substanz dabei erstmals an einer kleinen Zahl von – gesunden – Freiwilligen getestet. Das Augenmerk liegt darauf, wie verträglich ein Wirkstoff ist, wie er sich im Körper umwandelt und wie schnell er ausgeschieden wird. Erst wenn die Resultate zufriedenstellend sind, erfolgen Versuche mit Patienten (Phase 2).
«Gewisse Risiken bleiben»
Dass es bei Phase 1-Studien zu unliebsamen Überraschungen kommt, kann auch in der Schweiz passieren, sagt Professor Christian Seiler, Kardiologe und Präsident der Berner Ethikkommission. «Da die Medikamente bis zu diesem Zeitpunkt noch nie an Menschen getestet wurden, können unerwartete Nebenwirkungen auftreten.» Die Versuchsteilnehmer würden deshalb ausdrücklich darauf hingewiesen, dass gewisse Risiken beständen, so Seiler. Seines Wissens habe es hierzulande jedoch in den vergangenen zehn Jahren keine klinischen Versuche in der frühesten Testphase gegeben, die schwerwiegende Folgen für die Probanden gehabt hätten.
Sowieso höchst selten kommt es in Europa zu Todesfällen in Zusammenhang mit klinischen Studien – vergleichbar mit den jüngsten Vorkommnissen ist laut Experten lediglich ein Fall: 2006 mussten in London sechs Männer nach der Teilnahme an einem Phase 1-Medikamententest auf die Intensivstation. Geprüft wurde damals ein Wirkstoff, der gegen Krankheiten wie Multiple Sklerose, rheumatische Arthritis und verschiedene Krebsformen entwickelt worden war. Die Probanden schwebten tagelang in Lebensgefahr, konnten aber allesamt gerettet werden.
Abschreckende Wirkung?
Beide Fälle seien sowohl tragisch wie aussergewöhnlich, sagt Brigitte Meier, Leiterin der Sektion Forschung am Menschen und Ethik beim Bundesamt für Gesundheit (BAG). Auch sie betont, dass bei Phase 1-Studien solch schwerwiegende Nebenwirkungen nicht 100-prozentig auszuschliessen seien. Doch einerseits müssten klinische Versuche in der Schweiz von Prüfbehörden bewilligt werden. «Zudem werden die Probanden während der Studie ganz engmaschig begleitet und auch nach Studienabschluss betreut.» Weiter gibt Meier zu bedenken, dass die Mittel im Labor bereits ausgiebig getestet worden seien. «Nicht umsonst gilt die Regel: Von 10'000 entwickelten Substanzen schaffen es zehn in die klinische Forschung und nur ein einziges als Medikament auf den Markt.»
Von 10'000 entwickelten Substanzen schafft es eine einzige schliesslich auf den Markt.
Doch selbst wenn die Risiken offenbar minim sind, dürfte der Fall Frankreich für einige Versuchsteilnehmer durchaus eine abschreckende Wirkung haben. «Möglicherweise sind Probanden weniger bereit, sich für klinische Tests zu melden», befürchtet Professor Seiler. Die Forschung wäre damit in einer Sackgasse. Denn es gilt: «Ohne solche Tests gibt es auch keine neuen Medikamente, die eingesetzt werden können.»