Nachtwäscheball und Mauerfall passen auf den ersten Blick nicht zusammen. Auf den zweiten – auch nicht. Bei mir war es trotzdem genau so. Ich war im Herbst 89 Schwesternschülerin im Kreiskrankenhaus Stralsund und wir feierten am Abend des 9. November den Nachtwäscheball – eine Art Karneval oder Fasching, würde man wohl heute sagen.
Unser Partyraum lag an der B 105 – einer Fernverkehrsstrasse, die bis an die knapp 200 Kilometer entfernte Westgrenze führte. Wir wunderten uns damals zwar, dass die Strasse nachts so extrem befahren war, machten uns deshalb aber zunächst kaum weiter Gedanken.
Irgendwann bekamen wir dann aber doch mit, dass alle in Richtung Westen nach Lübeck oder Hamburg unterwegs waren. Wir konnten das aber irgendwie nicht so richtig glauben und feierten deshalb einfach weiter bis zum nächsten Morgen.
Zeiten ändern sich und die Menschen
Noch zwei Tage zuvor war ich kurz meine Mutter auf der Arbeit besuchen. Die arbeitete in der Kinderpsychiatrie und dort lief der Fernseher. Mitten in der Sendung erschien dann ein Laufband mit der Aufschrift: «Die Regierung der DDR ist zurückgetreten.»
Ich weiss noch genau, dass meine Mutter daraufhin sehr weinte, weil sie panische Angst hatte vor dem was nun kommen würde. Sie war in der SED und hat an den Staat geglaubt. Uns Kindern sollte es einmal besser gehen, das war ihre Überzeugung.
Aber am Ende ist auch für sie alles gut geworden. Enttäuscht hat sie nicht die neue Zeit, sondern der Wandel der Menschen. Plötzlich spielte Geld eine Rolle, Neid kam auf.
Von jetzt auf gleich: Ich kann arbeiten, wo ich will
Im Gegensatz zu meiner Mutter hatte ich keine Angst. Bei mir war es eher eine Mischung aus jugendlicher Naivität und und grosser Neugier auf das, was da wohl nun kommen mag. Rückblickend muss ich sagen, dass meine Erinnerungen an diese Zeit und an alles, was danach kam, nur positiv sind.
1990 habe ich meine Ausbildung beendet und mir danach einfach ein Stelle gesucht, die mir gefällt. Klingt simpel, ist auch simpel – aber was heute völlig normal ist, war es damals eben nicht. Im DDR-System hätte ich drei Jahre arbeiten müssen, wohin auch immer man mich geschickt hätte. Doch diese Planwirtschaft gab es plötzlich von heute auf morgen nicht mehr.
Falls es schief geht: Geschieden ist schnell
Ich weiss noch, dass ich einmal zu Ostzeiten am Strand stand und in Richtung Schweden schaute. Dabei dachte ich: «Da möchtest du unbedingt einmal hin». Das Reisen war schon eine grosse Sehnsucht. Später bin ich dann viel gereist, habe Menschen aus der ganzen Welt getroffen und sehr viel gelernt.
In die Schweiz bin ich dann durch meinen Mann gekommen. 1997 hatten wir uns zufällig in Berlin getroffen. Einige Wochen später haben wir bereits in Paris Urlaub gemacht. Dann bin ich zu ihm nach Zürich gezogen.
Weil ich aber nur eine L-Bewilligung bekam, was in etwa dem Status einer Prostituierten entsprach, haben wir 1998 aus «praktischen» Gründen geheiratet. «Falls es schief geht: Geschieden ist schnell», dachte ich mir damals. Aber dazu ist es ja dann nicht gekommen. Im Gegenteil, heute sind wir dank unserer drei Kinder zu fünft.
Ich vermisse die See, die Weite und die Menschen
An der Schweiz gefällt mir die Landschaft. Die Schweizer Berge sind einmalig schön und die Menschen sehr empathisch. Was mich zuweilen stört, ist diese eher subtile Schweizer Art. Statt es direkt zu sagen, «verpackt» man seine Kritik nett – man könnte ja jemandem auf die Füsse treten.
Heimweh habe ich eigentlich ständig. Jeden Sommer verbringe ich vier Wochen in meiner alten Heimat. Danach finde ich hier dann alles erst einmal für einen Monat doof.
Denn vor allem die Mentalität meiner Leute fehlt mir – ihre klare Art, bei der man immer weiss, woran man ist. Und ich vermisse die See. Nicht das warme, glatte Mittelmeer, sondern die raue, stürmische Ostsee. Und ich sehne mich nach Weite. Zu viele Berge schränken nicht nur die Sicht, sondern auch das Denken ein – finde ich.
Unausgesprochenes Verstehen geht nur mit Ossis
Auf grosses Interesse, was meine ostdeutsche Herkunft betrifft, stosse ich im Alltag nicht. Eher ist es zuweilen so, dass mir manche erzählen wollen, wie ich in der DDR aufgewachsen bin. Das ist auch einer der Gründe, weshalb ich nur noch selten über das Leben von damals mit Leuten diskutiere, die das System nicht erlebt haben.
Wenn ich genauer darüber nachdenke, dann stelle ich fest, dass ich eigentlich nur noch mit alten Freunden über das Leben in der DDR rede. Das macht auch mehr Spass und es herrscht zwischen uns so eine Art stillschweigendes Verständnis, unausgesprochenes Verstehen.
Alle Wünsche haben sich erfüllt
Generell würde ich mir wünschen, dass nun endlich die Zeit kommt, wo auch die guten Seiten des DDR-Systems benannt werden dürfen, ohne gleich das Etikett als weinerlicher Ossi aufgedrückt zu bekommen. Denn das Negative des Systems kennt ja nun mittlerweile wirklich jeder zur Genüge.
Dass es aber ein landesweit einheitliches Schulsystem gab und der zwischenmenschliche Umgang ein gänzlich anderer war als heute, darüber hört und liest man weniger.
Doch dessen ungeachtet haben sich nach dem Mauerfall alle meine Wünsche erfüllt. Ich habe zwei Gesellschaftsordnungen in »echt« erlebt, darauf bin ich sehr stolz.