SRF: Verhaftet wurde niemand, einen konkreten Verdacht gab es nicht: Warum haben die Behörden bereits jetzt zugegriffen?
Holger Schmidt: Es gab den Verdacht, dass es diese Terrorgruppe gibt. Sie hatte sich zusammengefunden und war dabei, etwas zu planen. In den vergangenen Wochen und Monaten gab es sehr langwierige Ermittlungen.
Alles ging los durch die Festnahme des Schweizers S. N. in Hamburg im Mai 2012. Ab dem Moment gab es die ersten Hinweise, dass mehr sein könnte, als einfach nur die Festnahme eines Mordverdächtigen auf einem Hamburger Bahnhof.
Trotzdem waren die Ermittlungen nicht konkret genug. Sie reichten nicht für Haftbefehle aus. Deswegen sind die Ermittler an einem Punkt angekommen, wo sie es für richtig gehalten haben, Durchsuchungen vorzunehmen. Sie wollten sicher gehen, was sie in den entsprechenden Wohnungen und was sie in den beiden Zellen von Schweizer Gefängnissen finden würden. Damit wollten sie einen genaueren Überblick darüber haben, für wie gefährlich sie die Gruppe halten müssen und was genau die Planung sein könnte.
Der Hauptverdächtige ist ein Schweizer, der wegen Mordverdachts in der Schweiz in U-Haft sitzt. Es überrascht, dass ausgerechnet ein Schweizer eine rechtsextreme Zelle in Deutschland führen soll.
Ja, aber S. N. hat eine lange Vorgeschichte. Er ist immer wieder an rechtsextremen Veranstaltungen in Mitteleuropa und Deutschland aufgetaucht. Nach meiner Meinung gibt es eine grosse Vernetzung von Neonazis im deutschsprachigen Raum. Sie ist durch die gemeinsame Hass-Ideologie verbunden. Sie halten die jeweils nationale Idee für nicht so wichtig, so lange die Kameraden in der Gesinnung gleich sind.
Und sie haben viele gemeinsame Feindbilder: den Hass auf den Staat, den Hass auf Ausländer. Wenn jemand als besonders entschlossen, als besonders gewaltbereit gilt – und das gilt wohl für S. N., dann findet er schnell auch in Deutschland und Österreich Gleichgesinnte.
Wie eng sind die Verbindungen zwischen deutschen und Schweizer Neonazis?
Wenn sich Leute in dieser Szene gut kennen, und wenn sie einander vertrauen, dann sind die Verbindungen sehr, sehr eng. Wir haben das immer wieder auch bei den Ermittlungen rund um den Nationalsozialistischen Untergrund NSU erlebt. Die Terrorzelle hat in Deutschland über viele Jahre hinweg aus dem Untergrund heraus Migranten ermordet. Das einzige überlebende Mitglied der Zelle ist wohl Beate Zschäpe, die inzwischen in München vor dem Gericht steht.
Von dem, was wir dort auch über die Strukturen der Neonazis hören, ergibt sich immer wieder, dass es richtige Völkerfeste gegeben hatte. In Thüringen beispielsweise, hat man sich aus ganz Europa getroffen. Hatte man nur die richtige rechtsradikale Ideologie gehabt, so hat man sich als gleichgesinnt angesehen. Dann war man «froh» dort Kameraden zu treffen, die die gleiche Ideologie teilen.
Das heisst theoretisch wäre so eine Mord-Serie von Neonazis auch in der Schweiz möglich?
Das kann man nicht ausschliessen. Die Frage ist: Wie entschlossen war diese Werwolf-Gruppe? Sie lehnt sich ich an eine Ideologie aus dem Ende des Dritten Reiches an. Damals gab es bei der SS (Schutzstaffel der NSDAP) den Befehl, man solle Werwolf-Gruppen bilden. Kleine Einheiten, die nicht mehr in grossen militärischen Formationen den Krieg gegen die alliierten Truppen führen, sondern kleine Guerilla-Teams, die dann mit Sabotage-Aktionen und Anschlägen gegen die Alliierten kämpfen sollten.
Das ist ein Mythos, der in der Neonazi-Szene bis heute eine sehr grosse Rolle spielt. Man verherrlicht die damaligen Werwolf-Gruppen, und man sieht es als erstrebenswert an, eigene Gruppen zu gründen – aus gewaltbereiten und entschlossenen Neonazis.
Wo dann die entsprechenden Anschläge durchgeführt werden, ist eine weitere Frage der Ermittlungsbehörden. Diese erhoffen sich nun, bei den Durchsuchungen Aufschlüsse zu finden. Durch Unterlagen. Durch Datenträger.
Sie verfolgen in München den NSU-Prozess, den Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund mit Beate Zschäpe. Mit dieser Terrorzelle hat der neue Fall offenbar aber nichts zu tun?
Was die beiden Fälle einzig gemeinsam haben ist die gleiche rechtsradikale Ideologie. Aber von den Strukturen, von den Personen, um die es geht, gibt es keine Zusammenhänge.
Möglicherweise gibt es einen übergeordneten Zusammenhang. In Deutschland hat es eine ganz heftige Diskussion gegeben nach der Entdeckung der Terrorzelle NSU: Warum tappte man so viele Jahre im Dunkeln? War man auf dem rechten Auge blind? Was musste eigentlich passieren, dass diese Gruppe mehr als zehn Jahre lang in Deutschland morden konnte, ohne dass jemand bemerkte, dass Rechtsterror am Werk ist?
Vielleicht hat diese erhöhte Sensibilität dazu geführt, dass jetzt bei der Werwolf-Gruppe sehr viel schneller und entschlossener gehandelt wurde.
Gibt es denn viele rechtsextreme Zellen, die quasi unabhängig voneinander im deutschsprachigen Raum operieren?
Seit dem Auffliegen der Terrorzelle NSU ist auch das eine grosse Frage der Ermittler. Und man hat noch eine weitere Sorge. Alle Berichte über den Fall NSU können dazu führen, dass in der gewaltbereiten rechten Szene ein Nachahmungseffekt eintritt.
Deswegen sind gerade im Bereich Rechtsterrorismus die Anstrengungen der Ermittlungen sehr verstärkt worden. Man schaut, dass man möglichst früh erkennen kann, was sich tut. Aber eine Prognose treffen, wie viele mögliche vergleichbare Zellen es gibt und wie die Fälle einander beeinflussen, ist ausgesprochen schwierig.
Das Gespräch mit Holger Schmidt führte Peter Voegeli.