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Stacheldraht am Ausschaffungsgefängnis Zürich, dahinter ein Swiss-Flugzeug.
Legende: Der Ecuadorianer darf laut Gerichtsurteil des EGMR nicht ausgeschafft werden. Keystone

Schweiz «Die Schweiz legt sich selbst Steine in den Weg»

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Strassburg hat entschieden: Die Schweiz darf einen mehrfach vorbestraften Ecuadorianer nicht ausschaffen. Was bedeutet dieses Urteil für die Zukunft der Schweizer Rechtssprechung? Dazu Migrationsexperte Thomas Kessler.

SRF News Online: Thomas Kessler, das Bundesverwaltungsgericht hat entschieden, einen mehrfach straffällig gewordenen Ecuadorianer auszuweisen. Wieso stösst der EGMR einen Entscheid des Bundesverwaltungsgerichtes um?

Der aktuelle Fall

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Der EGMR hat entschieden , dass ein Ecuadorianer nicht ausgeschafft werden darf. Der Mann hat in der Schweiz eine minderjährige Tochter. Der EGMR kommt daher zum Schluss, dass eine Ausweisung des Mannes zu einem eingeschränkten Kontakt mit der Tochter führen würde. Das Recht auf Familienleben sei daher höher zu gewichten als der Sicherheitsgedanke.

Thomas Kessler: Der Unterschied liegt in den verschiedenen Gewichtungen der Rechtssysteme der einzelnen Länder. Südliche Länder gewichten beispielsweise Familienrecht wesentlich höher als nordische. Hierzulande geht man von einer funktionierenden Rechtsordnung und Demokratie aus – dass die Menschenrechte gewährleistet sind, nimmt man als gegeben an. Umso mehr wird die Sicherheitsfrage gross geschrieben. Gesamteuropäisch verhält es sich eher umgekehrt.

Warum?

Wegen der Geschichte. Die Schweiz hat als einziges Land auf dem Kontinent die bürgerliche Revolution von 1848 erfolgreich durchgezogen und eine Verfassung nach dem Vorbild der USA eingeführt. Im übrigen Kontinentaleuropa wurden die Menschenrechte vom Staat selber oft krass verletzt – insbesondere während und zwischen den beiden Weltkriegen. Europa hat Erfahrungen gemacht, welche die Schweiz nicht hat – und umgekehrt.

Kein Präzedenzfall

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Bereits 2013 hatten die Strassburger Richter die Schweiz wegen eines Auschaffungs-Entscheids gerügt. Damals ging es um einen verurteilten nigerianischen Familienvater. Lesen Sie hier mehr dazu

Wie ordnen Sie das Urteil ein?

Das Urteil ist objektiv nicht falsch. Der EGMR hat anders entschieden als die Richter in der Schweiz. Wir stellen uns ja dieser kontinentalen Sicht. Die Schweiz muss mit diesem Urteil loyal umgehen und es akzeptieren. Das mag aus Bürgersicht stossend sein. Doch gerade weil wir ein Rechtsstaat sind, müssen und können wir damit leben, dass die Menschenrechte im Einzelfall auch Vorrang haben können.

Was kann die Schweiz jetzt tun mit dem betroffenen Ecuadorianer?

Die Schweiz hat sich vertraglich verpflichtet, sich an die Urteile des EGMR zu halten. Sie muss das Urteil annehmen und schauen, wie man das Bedürfnis nach Sicherheit anders sicherstellen kann. Die Politik ist in der Integration und Prävention stark gefordert. Und die Strafverfolgung muss möglichst früh handeln und genügend Mittel haben. Sobald die Betroffenen hier heiraten oder eine Familie gründen, zählt das Familienrecht mit.

Zur Person

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Thomas Kessler.
Legende: keystone

Thomas Kessler ist Leiter der Kantons- und Stadtentwicklung des Kantons Basel-Stadt. In dieser Funktion leitet er auch die Fachstelle Diversität und Integration. Bis 2008 war Kessler Basler Migrationsdelegierter. Er doziert noch heute am Schweizerischen Polizei-Institut und berät Bundesbehörden.

Bald soll die Ausschaffungsinitiative der SVP umgesetzt werden. Damit wird der Umgang mit kriminellen Ausländern noch strikter. Wird die Schweiz jetzt in die Bredouille kommen?

Der Bundesrat ist gefordert. Doch das tiefere Problem liegt nicht im Umgang mit der EU oder Europa. Die Schweiz legt sich selbst Steine in den Weg. Immer mehr Initiativen sind gar nicht umsetzbar – teils aus praktischen, teils aus rechtlich übergeordneten Gründen. Schärfere Sanktionen auf Verfassungsstufe gegen bestimmte Tätergruppen – etwa wie kürzlich gegen Pädophile – sind absurd. Gesetze und Rechtsprechung meistern dies besser. Die Qualität der Rechtsprechung sinkt, wenn man den Spielraum zur Beurteilung eines Täters bei einzelnen Delikten einschränkt. Die vielgestaltige und mehrsprachige Schweiz definiert sich über die Bundesverfassung – sie ist unsere Grundlage, keine Sammlung für Einzelfälle. Doch ihr wird immer mehr aufgebürdet an Themen, die da nicht hingehören. Das schwächt sie. Und das ist das grössere Problem als die Unstimmigkeiten mit Europa.

Sind künftig mehr Schweizer Fälle vor dem EGMR zu erwarten?

Es wird immer wieder Reibungen geben. Kein anderes Land kennt Verfassungsänderungen zu Einzeltätergruppen via Abstimmungen. Man könnte noch ganz viele Gruppen einzeln vorbeurteilen, Vergewaltiger oder Tierquäler beispielsweise. Eine solche Vorlage wäre mehrheitsfähig – niemand findet diese Täter sympathisch. Damit würde man sich aber von der lange entwickelten Gerichtsbarkeit, bei der der Richter den ganzen Menschen mit seiner Geschichte und Perspektiven anschaut, verabschieden. Ein internationales Gericht würde das nicht stützen.

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