Die Schweiz ist ein Einwanderungsland. Früher wie heute waren Ausländer willkommen in der Schweiz, wenn die Wirtschaft sie brauchte – schon vor der Personenfreizügigkeit. Seit es keine Kontingente mehr gibt, ist die Nachfrage nach Aufenthaltsbewilligungen merklich gestiegen. Insbesondere aufgrund der Krise in den südlichen Euroländern hat die Zahl der Zuwanderer stark zugenommen.
Oft ist die Rede vom sogenannten Migrationsdruck. Die Schweiz hat ein Mittel, um diesem Druck etwas Luft abzulassen: Die Ventilklausel.
Der Bundesrat kann die Ventilklausel anrufen, wenn die Einwanderung innerhalb eines Jahres stark zunimmt: Die Zahl erteilter Aufenthaltsbewilligungen muss mindestens 10 Prozent über dem Durchschnitt der letzten 3 Jahre liegen. Ist dies der Fall, beträgt das Kontingent für das darauffolgende Jahr 5 Prozent mehr als der Durchschnitt der letzten 3 Jahre.
Diese Bedingung erfüllte die Anzahl erteilter B-Bewilligungen aus den EU-8-Staaten im April 2012. Deshalb rief der Bundesrat im Mai 2012 die Ventilklausel an. Die Beschränkung gilt bis Ende dieses Monats – die rechtlichen Bedingungen für eine Verlängerung um ein Jahr sind jedoch erfüllt. Zu den EU-8-Staaten gehören die osteuropäischen Mitgliedstaaten Estland, Lettland, Litauen, Polen, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn.
Neben den B-Bewilligungen kann der Bundesrat nun auch die Ventilklausel für die L-Bewilligungen bei den EU-8-Staaten anrufen, sofern die Bedingungen bis Ende April erfüllt werden.
Zusätzlich könnte der Bundesrat die Ventilklausel auch auf die EU-17-Staaten ausweiten – also auf die alten EU-Länder. Und zwar sowohl für B- als auch für L-Bewilligungen – sofern die Bedingungen bis Ende Mai erfüllt werden.
Das im Personenfreizügigkeits-Abkommen verankerte Instrument darf nur noch bis Juni 2014 Kontingente für die Steuerung der Einwanderung vornehmen. Spätestens ab dann gilt für die gesamte EU-25 die volle Personenfreizügigkeit.
Wirtschaft und Linke gegen Liberale und Rechte
Der Bundesrat muss die Klausel nicht zwingend anwenden – selbst wenn die Voraussetzungen erfüllt sind. Doch er steht von allen Seiten unter Druck: Die Parteichefs von FDP, SVP und CVP drängen darauf, die Ventilklausel anzuwenden. Ihr Hauptanliegen: die «Masseneinwanderung zu stoppen». Für sie würde der Bundesrat mit der Anwendung der Ventilklausel sein Versprechen umsetzen, das er im Abstimmungskampf zu den bilateralen Verträgen und der Ausweitung der Personenfreizügigkeit gemacht habe.
Auf der anderen Seite an vorderster Front kämpft eine ungewöhnliche Allianz aus SP und diversen Wirtschaftsverbänden. Die Branchen klagen, sie bräuchten die Arbeitskräfte – Spitäler, Hotels, Baugewerbe, Landwirtschaft. Aber auch Fachkräfte im Computer- oder Ingenieurbereich sind weiterhin gesucht.
«Für das Bauhauptgewerbe, in dem über 60 Prozent der Beschäftigten aus dem Ausland stammen, ist ein unkomplizierter Zugang zum EU-Arbeitsmarkt zentral», heisst es etwa von Seiten des Schweizerische Baumeisterverbands.
Kommission empfiehlt die Ablehnung
Die SP bläst ins selbe Horn: Die Zuwanderung ist weiterhin so stark, weil Schweizer Unternehmen auf ausländische Arbeitskräfte angewiesen sind. Die Ventilklausel sei deshalb bestenfalls «Valium für das Volk».
Die Zuwanderung aus der ganzen EU vorübergehend beschränken? Die EU wäre wenig erfreut darüber. Die Aussenpolitische Kommission des Nationalrats (AKP) empfiehlt dem Bundesrat: Nein – mit 12 Stimmen zu 9, bei 3 Enthaltungen. Hauptgrund: Die Klausel sei nicht im aussenpolitischen Interesse der Schweiz. Die AKP befürchtet negative Auswirkungen auf die Beziehungen zur Europäischen Union. Nach ihrer Meinung existieren genügend geeignete Mittel, um die Zuwanderung abzufedern. Der Bundesrat wird demnächst über das hochpolitische Thema entscheiden.