Zwei damals 20- und 21jährige Männer waren im August 2010 in einem Zürcher Parkhaus vor einem Wagen hergelaufen. Als das Auto langsam an den beiden vorbei fuhr, machten sie provokative Gesten und beschimpften den 34jährigen Lenker und seine schwangere Gattin. Der Autofahrer liess die Scheibe herunter und zeigte ihnen den Mittelfinger.
Brutale Prügelattacke
Die beiden Männer rannten dem Wagen nach, rissen die Fahrertür auf und verprügelten den Lenker brutal bis zur Bewusstlosigkeit. Er erlitt einen Bruch des Augenhöhlenbodens, musste operiert werden und wurde vorübergehend arbeitsunfähig.
Seine Unfallversicherung kürzte ihm später wegen der Beteiligung an einer Schlägerei die Taggeldleistungen um die Hälfte. Das Zürcher Sozialversicherungsgericht hob diesen Entscheid dann allerdings auf.
Es war zum Schluss gekommen, dass die Geste des Autolenkers zwar als unglückliche Aktion zu werten sei. Die brutale Reaktion darauf sei aber so übertrieben gewesen, dass er nicht damit habe rechnen müssen. Die relevante Aggression sei einzig von den zwei jungen Männern ausgegangen. Der Verletzte sei dagegen derart überwiegend als Opfer zu betrachten, dass sein eigener Beitrag völlig in den Hintergrund trete.
Stinkefinger reicht als «Beteiligung an einer Schlägerei»
Das Bundesgericht hat dieser Sicht der Dinge nun widersprochen, die Beschwerde der Versicherung gutgeheissen und die Halbierung der Taggelder abgesegnet. Laut Gericht kommt es für eine Leistungskürzung wegen «Beteiligung an einer Schlägerei» nicht darauf an, ob der Versicherte selber tätlich geworden ist.
Ebenso unerheblich sei, wer mit dem Streit begonnen habe. Entscheidend sei einzig, ob das Opfer die Gefahr einer tätlichen Auseinandersetzung gekannt habe oder hätte kennen müssen. Das sei hier eindeutig der Fall. Wörtlich heisst es im Urteil: «In der heutigen Zeit ist bei solchen Vorkommnissen mit einer derartigen Eskalation zu rechnen.»
Mit dem Zeigen des Stinkefingers habe der Autolenker das folgende Unheil geradezu heraufbeschworen. Die beiden Täter hätten es auf einen Streit angelegt. In dieser Situation mit einer obszönen Geste zu reagieren, sei nach dem allgemeinen Lauf der Dinge geeignet gewesen, den verwerflichen Angriff herbeizuführen.
Die bundesgerichtliche Einschätzung, dass man im öffentlichen Raum also praktisch mit Gewalt leben müsse, hält Thomas Gall für problematisch. Er ist Berater bei der Opferhilfe beider Basel. «Wir sind nicht der Ansicht, dass eine Provokation eine Straftat rechtfertigt», sagt er gegenüber Radio SRF.
Täter in einem Strafverfahren belangen
Doch Gall findet nicht, dass das Gericht damit Partei für die Täter ergreife. Das Opfer könne die Schläger in einem Strafverfahren belangen. Aber zivilrechtlich ist das Opfer gemäss dem Bundesgericht mitverantwortlich.
Psychologisch sei dieses Urteil für das Opfer dennoch schwer zu schlucken. Die von einer Gewalttat betroffenen Menschen würden diese zu bewältigen versuchen und müssten sich dann noch mit ihren Versicherungen herumschlagen. «Dann wird es sehr schwierig – und für viele Menschen auch nicht verständlich», so Gall.