Der Mauerfall und seine Folgen sind irgendwie immer noch das bestimmende Thema in meinem Leben und das, obwohl ich fast alles über die DDR nur aus Büchern erfahren habe oder eben über die Perspektive meiner Eltern.
Ich gehöre der Generation an, die weder das Land kannte, in dem sie geboren wurde, noch das Land, in welches sie dann hineinwuchs. Wir sitzen zwischen den Stühlen.
Bei so viel Freude muss Grosses passiert sein
Am Tag des Mauerfalls war ich zwar erst neun Jahre alt. Trotzdem kann ich mich noch gut daran erinnern. Wir sassen am Abend vor dem Fernseher und haben dort gesehen, was an der Grenze vor sich ging.
Was das genau bedeute, war mir damals natürlich nicht so richtig klar. Und dennoch spürte ich, dass da gerade irgendetwas ganz Grosses passieren muss – warum sonst sollten sich da so viele Menschen so sehr freuen.
Eine Reise, eine Küche und ein bekanntes Gesicht
Weihnachten 89 sind wir dann das erste Mal in den Westen gefahren. Wir besuchten die Familie meiner Mutter. Weil das Ganze eine Überraschung war, musste ich allein an der Tür meiner Tante klingeln. Die war natürlich vollkommen überwältigt, aber ich dachte nur: «Hilfe, ich kenne die Frau doch gar nicht».
Da sassen wir dann alle in der Küche. Um mich herum nur unbekannte Gesichter – bis auf eines. Es gehörte zu meinem Bruder, der ein Jahr zuvor über Ungarn abgehauen war.
Keinen Plan und doch Teil des Ganzen
Das was ich in der DDR erlebt habe, war nicht schlimm – halt so Kinderzeugs, würde ich heute sagen. Ich musste als Neunjährige noch keine Stellung zu diesem Land beziehen.
Wenn ich hingegen älter gewesen wäre, hätte ich sicher eine Meinung entwickelt. Aber so hatte ich keinen Plan, wusste nicht, dass ich ein kleiner Teil eines grossen Ganze war. Mit neun ist man einfach noch kein politischer Mensch.
Ich definiere mich über meine Herkunft
Viel mehr als die marode DDR hat mich dann auch die Zeit nach dem Mauerfall geprägt. Die 90er in meiner Heimatstadt Riesa, das waren vor allem Trostlosigkeit und Neonazis. Meine Eltern verloren komplett den Boden unter den Füssen.
Sie haben 40 Jahre in einem System gelebt, und von einem Tag auf den anderen war alles anders. Alles, was vorher war, wurde extrem auf den Prüfstand gestellt und kritisiert. Sie waren überfordert vom neuen System.
Mir hingegen ist die Umstellung fast nicht aufgefallen. Ich bin da reingerutscht, hatte alle Möglichkeiten, konnte reisen und studieren was ich wollte. Ja, vielleicht ist es auch so, dass wir inzwischen verschiedene Sprachen sprechen. Zumindest sie fühlen sich ganz oft unverstanden.
Ein «deutscher» Topf für alle
Obwohl nun 25 Jahre ins Land gegangen sind und ich schon lange nicht mehr in Riesa lebe, fühle ich mich noch immer sehr ostdeutsch. In Deutschland selbst hört man das gar nicht so gern. Viele sagen: «Das ist doch jetzt kein Thema mehr.»
Dabei ist es doch aber so, dass sich doch letztlich fast jeder über seine Herkunft begreift – definiert auf der einen und abgrenzt auf der anderen Seite. Deshalb war es für mich schon irgendwie lustig, in der Schweiz plötzlich in dem grossen Topf der «Deutschen» zu landen.
Wo ich herkomme, da ist einfach nichts mehr
Dass ich heute hier lebe, das hat sich einfach so ergeben. Ich hatte damals ein Jobangebot und wollte aus Berlin weg. Von daher kam eins zum anderen und ich habe den Schritt auch nie bereut. Denn hier bin ich irgendwie bei mir selbst angekommen – in vielerlei Hinsicht.
Zudem gefällt mir das Internationale der Schweiz unglaublich gut. Es ist das genaue Gegenteil von meiner früheren Heimat. Hier ist Leben und Lebensfreude – da nur noch Trost- und Hoffnungslosigkeit. Da wo ich herkomme, da ist einfach nichts mehr und wird auf absehbare Zeit auch nichts mehr sein.
Meine Heimatstadt Riesa ist leer. Es leben fast nur noch alte Leute dort. Man spürt förmlich mit jeder Pore, dass das da eine Geisterstadt geworden ist, die nie wieder den Glanz der 70er und 80er haben wird. Das ist aus und vorbei und vielleicht ist das auch gut so.
Selbst die Heimat ist mir fremd geworden
Wo ich Zuhause bin? Ich weiss es nicht. Aber ich weiss, dass die Schweiz, trotz der vielen schönen Seiten, mir die Heimat nicht ersetzen kann. Andererseits bin ich inzwischen schon viel zu lange von Zuhause weg und verstehe die Leute in ihrem Denken und Handeln kaum noch.
Auch wenn ich die Mentalität der Menschen in meiner Heimat verstehe, so sind sie mir doch in vielerlei Hinsicht fremd geworden. So gesehen sitze ich, was das angeht, noch immer zwischen den Stühlen – auch nach 25 Jahren.