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Schweiz Etwas Raumplanung würde dem Tessin nicht schaden

Ein Bericht zur raumplanerische Situation im Tessin kritisiert die vergangenen Bausünden. Und er warnt: Die Eröffnung der Neat und des Ceneritunnels wird noch einmal viel verändern. Der Kanton solle sich darauf vorbereiten.

Der Atlas über die Città Ticino ist ein grossformatiges Ding. Er enthält Landkarten, Satellitenbilder, Planskizzen und Fotos. Der Atlas zeigt: 1938 war die Magadinoebene noch ein verlassenes, wildes Land. Ab 1960 zeigt die Landeskarte den Staudamm im Verzascatal, 1973 zerschnitt die Gotthardautobahn die Ebene und bis heute sind ihr Einkaufszentren, Produktionsbetriebe und Siedlungen gefolgt.

«Die Raumplanung ist Sache der Gemeinden», erklärt Projektleiter Michele Arnaboldi den Mangel an gesamtheitlicher Planung. «Fast jede Gemeinde wollte Shoppingzentren und Fabriken als Steuerzahler.» Landschaft sei wie eine Ware verbraucht, nicht wie ein Freund behandelt worden. «Das Resultat sind die grosse Unordnung und die Verkehrsprobleme von heute.»

Neuer Dreh-und Angelpunkt im Tessin

Arnaboldis Kritik kommt spät. Denn bald werden im Tessin die Neat und der Ceneri-Basistunnel eröffnet. Dann dauert eine S-Bahn Fahrt von Lugano nach Bellinzona 12 Minuten, Locarno rückt auf 22 Minuten Fahrzeit an Lugano heran. Neue Pendlerströme werden entstehen. Wer in Lugano arbeitet, wird ohne weiteres in Locarno oder bei Bellinzona wohnen können.

Ein Beispiel dafür ist der Bahnhof Giubiasco. Er ist heute ein verschlafener Ort. Aber in nur vier Jahren soll sich die Zahl der Bahnpassagiere verdoppeln. Umso wichtiger wäre jetzt der Beitrag der Raumplaner im Tessin. «Der Bahnhof Giubiasco wird zum Dreh- und Angelpunkt des Bahnsystems im Tessin», erklärt Enrico Sassi, Dozent und Mitautor der Studie. Giubiasco wird zum zentralen Umsteigebahnhof, zum Arth-Goldau des Tessins. Zugleich liegt der Bahnhof nur 300 Meter entfernt von der geschützten Flusslandschaft, die sich von Giubiasco 12 Kilometer weit bis zur Mündung des Ticino erstreckt.

Der Bahnhof ist heute umgeben von Industrieanlagen, die zum Teil aufgegeben worden sind. Auf den heutigen Industrieflächen könnte ein neues Quartier entstehen, in Fusswegdistanz zum Bahnhof. Mit der Neat wird dieser Ort plötzlich hoch attraktiv. Gemeinsam mit Kanton und Gemeinde arbeiten die Forscher an einem Masterplan für Giubiasco.

Politischer Wille nicht vorhanden

Der Bauboom und auch die Verschandelung sind an der Region um Bellinzona eher vorbeigegangen. Jetzt wird sie zu einem Brennpunkt der Entwicklung und zur Chance in der Raumplanung. Schnellere Verbindungen ermöglichen grössere Pendlerdistanzen. Neue Wohnquartiere wachsen in der Peripherie, bis nach Biasca hinauf. Dieselbe Entwicklung wurde in der Deutschschweiz schon beobachtet und beklagt. Doch eine öffentliche Debatte im Tessin fehlt bisher weitgehend.

Im Tessin werde abgewartet, bis die Züge durch die Neat Tunnel fahren, bis das neue S-Bahn System im Tessin startet, sagt Projektleiter Arnaboldi. Vorhersagen für die Zeit nach Alptransit gibt es wenige. Der politische Wille fehlt, Ortsbilder und Landschaften zu planen. Und angesichts der Neat ist es schon spät.

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