Die EU steigt mit sehr weitreichenden Forderungen in die Verhandlungen mit der Schweiz ein. Das geht aus dem Verhandlungsmandat für die EU-Kommission hervor, das die «Sonntagszeitung» publiziert hat. Sind die Verhandlungen also schon zum Scheitern verurteilt?
Nein. Man steigt immer mit einer Maximalposition in Verhandlungen ein, insofern überrascht das EU-Mandat nicht. Wenig hilfreich ist aber, dass es an die Öffentlichkeit geriet: Denn wenn die EU in manchen Punkten nachgibt, sieht das jetzt alle Welt.
Wo gibt es denn noch Verhandlungsspielraum?
In den Details. In den grossen Fragen hat man sich längst geeinigt: Die Schweiz übernimmt neues EU-Recht in Zukunft schnell und unbürokratisch, also dynamisch; die Schweiz und die EU überwachen einander gegenseitig; das juristisch letzte Wort hat im Streitfall der Europäische Gerichtshof.
Und wie sieht die Schweizer Verhandlungsposition aus?
Das Schweizer Verhandlungsmandat ist nicht an die Öffentlichkeit gelangt. Es wird in den Details abweichen: Nicht alle Abkommen dynamisieren, die Überwachungsbefugnisse der EU-Kommission in der Schweiz einschränken, das juristisch letzte Wort des Europäischen Gerichtshofes im Streitbeilegungsverfahren so weit als möglich einschränken und hinauszögern.
Der Bundesrat wehrt sich also nicht grundsätzlich gegen fremde Richter?
Dieser Entscheid ist vor gut einem Jahr gefallen. Und er scheint irgendwie konsequent, wenn man Zugang zu einem fremden Markt will – also zum EU-Binnenmarkt –, ohne der EU oder dem EWR beizutreten.
Und warum soll die EU Kontrolleure in die Schweiz schicken?
Sie tut das zum Teil jetzt schon. Die Idee dahinter: Wenn zwei Parteien einen Vertrag schliessen, überwachen sie am besten gegenseitig, ob die andere Seite sich an die Vereinbarungen hält. Da braucht es keine eigens dafür geschaffene überparteiliche Behörde wie in der EU, wo 28 Parteien einen Vertrag eingegangen sind.
Mehr dazu
Für wie wahrscheinlich halten sie es, dass die Verhandlungen zu einem Abschluss kommen?
Für wahrscheinlich. Allen Beteiligten ist klar, dass man noch nie so nahe an einer Lösung war, und dass es nur noch um Details geht. Diese Details sind zum Teil zwar wichtig, aber gerade in Detailfragen kann man auch kreativ werden und Formulierungen finden, die beiden Seiten erlauben, das Gesicht zu wahren. Eine andere Frage ist, ob dann auch die EU-Staaten, das EU-Parlament und insbesondere die Schweizer Bevölkerung das Verhandlungsergebnis akzeptieren. Da wage ich keine Prognose.
Was geschieht, wenn diese Verhandlungen über ein Rahmenabkommen scheitern?
Dann bleibt vertraglich vorerst alles so, wie es ist. Die EU hat klar gemacht, dass sie ohne eine Lösung der institutionellen Fragen zum Beispiel durch ein Rahmenabkommen keine neuen Verträge mehr mit der Schweiz abschliesst. Also zum Beispiel keinen Vertrag über die Aufnahme der Schweiz in den EU-Elektrizitätsmarkt.
Also Status quo. Wäre das ein Problem?
Kommt drauf an, wen man fragt. Für SVP-Chefdenker Christoph Blocher ist ein Elektrizitätsmarktabkommen mit der EU nicht überlebenswichtig. Das ist richtig, überleben kann man auch bei Wasser und Brot. Die Schweizer Wasserkraftwerke fürchten sich vor grossen Nachteilen, wenn die EU ihren Strommarkt um die Schweiz herum organisiert. Auch die Schweizer Grossbanken denken neu über ein Dienstleistungsabkommen mit der EU nach zur Sicherung ihres Zugangs zum EU-Markt. Vor allem aber gibt es wohl gar keinen Status quo. Der frühere Botschafter der Schweiz in Brüssel, Jacques de Watteville, warnte: Ohne neue Abkommen erodiert der Zugang der Schweiz zum EU-Binnenmarkt langsam aber sicher.
Könnte die Schweiz den Verlust im Geschäft mit der EU mit andern Handelspartnern wettmachen?
Da sprechen sowohl die Geographie als auch die Zahlen dagegen. Die EU ist für die Schweiz mit Abstand der wichtigste Handelspartner. 80 Prozent aller Importe kommen aus der EU, 60 Prozent der Exporte gehen in die EU.
Die EU will ein Rahmenabkommen, die Schweiz will umgekehrt das Personenfreizügigkeitsabkommen einschränken. Da sollte doch ein Deal möglich sein?
Aber kein Kuhhandel. Mit der Personenfreizügigkeit rührt die Schweiz an ein EU-Grundprinzip. Und es sieht derzeit ganz danach aus, dass die EU Verhandlungen über Quoten und Kontingente und Inländervorrang verweigert. Das Rahmenabkommen wiederum stellt aus EU-Sicht keine einseitige Forderung dar, sondern ein Fundament für Rechtssicherheit und reibungslose Wirtschaftsbeziehungen nach bilateralem Muster.
Die SVP sagt regelmässig, die Schweiz sei gegenüber der EU in einer starken Verhandlungsposition, die EU sei beim Rahmenabkommen die Bittstellerin. In welchen Bereichen hat die EU ein Interesse an der Zusammenarbeit mit der Schweiz und warum?
In allen Bereichen. Das gilt aber umgekehrt auch für die Schweiz. Zusammenarbeit und Handel in beide Richtungen sind sehr intensiv. Die EU und die Schweiz haben den Eisenbahn-, Strassen- und Luftverkehr gemeinsam geregelt, sie fördern Filme und bauen Satelliten gemeinsam, sie tauschen Studenten aus und legen Forschungsgelder zusammen, und so weiter und so fort.
Die Beziehungen sind viel zu komplex, als dass man sagen könnte, hier profitiert die EU mehr, da die Schweiz. Auch für den gemeinsamen Arbeitsmarkt und die Personenfreizügigkeit gibt es keine einfache Kosten-Nutzenrechnung: Profitiert die EU, weil über eine Million EU-Bürger in der Schweiz leben und arbeiten und nur 430‘000 Schweizer in der EU? Oder profitiert die Schweiz, weil EU-Bürger zu ihrem wirtschaftlichen Erfolg beitragen und den Betrieb in Spitälern und Altersheimen aufrecht erhalten?
Wie hoch gewichtet die EU diese Interessen?
Hoch, die Schweiz ist für die EU wichtig. Umgekehrt ist die EU für die Schweiz überlebensnotwendig.
Interview: Christa Gall