Fast zwei Stunden sind Genfer oder Waadtländer täglich mit Bus, Tram oder Zug unterwegs. Die Strassen sind konstant verstopft und die öffentlichen Verkehrsmittel hoffnungslos überfüllt. Denn die Region des Genfersee-Bogens boomt wie keine zweite in der Schweiz. Laut Vincent Kaufmann, Forscher für Stadtsoziologie und Verkehrsanalytiker an der ETH Lausanne, verzeichnet die Region seit rund 15 Jahren ein überproportionales demographisches und wirtschaftliches Wachstum.
Im Gegensatz zu den grossen Städten in der Deutschschweiz haben Genf und Lausanne den Ausbau des öffentlichen Verkehrs jedoch 20 Jahre lang sträflich vernachlässigt. «Politiker in der Westschweiz haben sich viel zu lange nicht für die Schiene interessiert. Das rächt sich heute», erklärt Kaufmann die Situation gegenüber SRF.
Neues Gesetz und neue Strecke für Genf
Eine Umfrage im Herbst hat gezeigt, dass sich die Mehrheit der Genfer eine autofreie Innenstadt vorstellen kann. Bei der Regierung rennt man mit diesem Anliegen offene Türen ein.
«In der Genfer Verfassung ist die freie Wahl des Transportmittels verankert. Das muss sich ändern, und dafür will Genf 2015 ein neues Gesetz erlassen», erklärt der CVP-Staatsrat Luc Barthassat. Vor allem im Stadtkern müsse man Prioritäten setzen, um bestimmten Verkehrsmitteln die Vorfahrt zu geben. Geplant seien zudem separate Achsen für den privaten und den öffentlichen Verkehr.
Für eine weitere Entlastung wird das ÖV-Projekt «CEVA» sorgen, welches den Bahnhof Cornavin mit dem französischen Annemasse verbinden wird. Die «CEVA-»Strecke mit sieben neuen Bahnhöfen, 16 Kilometern neuem Trassee und einigen Tunnels soll 2019 in Betrieb genommen werden.
1920 hatte Genf grösstes Tramnetz von Europa
Die Situation des öffentlichen Verkehrs war in Genf nicht immer so kritisch. Mit über 170 Kilometern Schiene hatte die Stadt vor knapp 100 Jahren das grösste Tramnetz Europas. In den 60er-Jahren setzte man jedoch auf eine automobile Zukunft und die Schienen mussten Strassen weichen.
Erst nach 1995 kam es zu einer Kehrtwende und Stadt und Kanton setzten wieder vermehrt auf den öffentlichen Verkehr. Der Genfer CVP-Staatsraat Luc Barthassat erinnert sich an die Zeit: «Wir haben in der Politik einen richtigen Transport-Krieg ausgetragen. Damals hat man die Schienen einfach in die vorhandenen Strassen gebaut und gedacht, dass die Leute dann automatisch vom Auto aufs Tram umsteigen. Nun haben wir das Chaos», enerviert sich Barthassat gegenüber «Schweiz aktuell»: «Mit dem Auto braucht man dreimal länger von der Innenstadt zum Bahnhof als zu Fuss.»
Ausbau Strecke Lausanne-Genf
Die noch grössere Baustelle ist das Projekt «Léman 2030», der längst überfällige Ausbau der SBB-Strecke zwischen Genf und Lausanne. Für die Waadt beginnt ein zehnjähriger Bau-Marathon, um die Kapazitäten auf der Zugstrecke zu verdoppeln.
Gemäss Nouria Gorrite, der Waadtländer SP-Staatsrätin, wird sich die Passagierzahl bis im Jahr 2030 verdoppeln, auf 100‘000 Passagiere pro Tag. Für die SP-Exekutivpolitikerin steht fest: «Wir müssen die Infrastruktur dieser Realität anpassen.»
Bund und Kantone investieren über drei Milliarden Franken für den Ausbau der Bahnhöfe Renens und Lausanne, bei denen täglich 600 Züge vorbeifahren. Geplant sind zusätzliche Gleise und längere Perrons für die neuen, 400 Meter langen Zugskompositionen. Gleichzeitig wird das regionale S-Bahn-Netz verdichtet.
Herausforderung «homo mobilis»
Der moderne Schweizer wurde längst zum «homo mobilis», zu einem Menschen, der an einem anderen Ort arbeitet als er wohnt. Die Herausforderung der Mobilität ist deshalb mehr als nur eine Frage nach dem Transport von A nach B, sondern eine Frage, wie sich die Schweiz zwischen Boden- und Genfersee entwickeln soll, analysiert der Lausanner ETH- Forscher Vincent Kaufmann: «Die Kernfrage lautet, ob wir die Mobilität dermassen aufblähen, bis aus der Schweiz eine einzige grosse Stadt geworden ist?»
Wie kaum eine andere in der Schweiz wird die Bevölkerung am Genfersee die immensen Herausforderungen der Mobilität in den nächsten Jahren intensiv zu spüren bekommen.