Die Luzernerin Nicole Dill lernt 2007 einen Mann kennen und verliebt sich. Nach wenigen Monaten in der Beziehung schöpft sie aber Verdacht, dass mit dem Mann etwas nicht in Ordnung ist. Als sie sich von ihm trennen will, reagiert ihr damaliger Freund mit Gewalt.
Am 19. September 2007 steigt er bei ihr zu Hause ein, vergewaltigt sie und nimmt sie in Gefangenschaft. Später versucht er sie zu töten und schiesst unter anderem dreimal mit einer Hand-Armbrust auf sie. Als sie überlebt, wirft er sie in den Kofferraum seines Wagens und startet zu einer stundenlangen Irrfahrt, die erst in seiner Wohnung endet. Hier gelingt es Dill, schwer verletzt, Alarm zu schlagen und sie kann gerettet werden.
«Die Tatnacht, diese Stunden, der Schmerz, das ist so präsent, man erlebt es nochmals und immer wieder», erzählt Dill «10vor10» sieben Jahre später über diese Nacht, die ihr Leben veränderte. «Die Demütigung, die man als Opfer durch den eigenen Partner erlebt, das ist die grösste Grausamkeit, die man erleben kann.»
Polizei gab keine Auskunft
Das alles hätte nicht passieren müssen, sagt Dill heute. Einige Wochen vor der Tat hatte sie sich nämlich beim Arzt ihres Partners über ihn erkundigt. Der Arzt gab ihr wegen des Arztgeheimnisses keine Auskunft, wandte sich aber an die Luzerner Polizei. Diese nahm Ende August 2007 telefonisch Kontakt mit Nicole Dill auf und klärte sie, nach eigenen Angaben, im Rahmen ihrer Befugnisse über die Situation auf.
Die Polizei wusste, dass Dills damaliger Freund gefährlich ist und dass er nur unter strengen Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen worden war. Davon erfährt Dill aber nichts. In den Polizeiakten, die «10vor10» vorliegen, findet sich folgende Aussage des Beamten: «Aus Datenschutzgründen war es mir natürlich nicht möglich, sie über Details von früheren Delikten des Täters zu informieren».
Mehr noch: Die Polizei riet ihr, die Beziehung zu dem Mann zu beenden, sich mit dem Opferschutz in Kontakt zu setzen und sich bei Problemen umgehend wieder zu melden. «Sie haben mir aber nicht gesagt warum. Ich dachte, wenn wirklich etwas ist, dann wird die Polizei reagieren und ihre Pflicht wahrnehmen.»
Genau den falschen Rat erteilt
Mit dieser Empfehlung mache sich die Polizei im Fall Nicole Dill mitschuldig. Das sagt Dills Anwältin Cristina Schiavi. Für sie liegt auf der Hand, dass die Polizei anders hätte handeln müssen. «Der Polizeibeamte hat die Notstandssituation nicht erkannt, sonst hätte er sich vom Amtsgeheimnis befreien lassen können.»
Zudem habe die Polizei auch aktiv eine Pflichtverletzung begangen, indem sie ihr mit einer Trennung genau den falschen Rat gegeben habe. «Es war aktenkundig, dass der Täter genau in diesen Trennungssituationen gewalttätig worden ist», begründet Schiavi.
Die düstere Akte des Freundes
Was Nicole Dill nicht wusste und die Polizei ihr verschwiegen hatte: Ihr damaliger Freund war bereits wegen Mordes verurteilt worden. 1993 hatte er eine Nachbarin vergewaltigt und getötet und sass deswegen acht Jahre im Gefängnis. Nach Verbüssung von zwei Drittel der Strafe, unter Ansetzung einer Probezeit von vier Jahren und der Anordnung einer Schutzaufsicht für zwei Jahre war er bedingt aus dem Strafvollzug entlassen worden.
Dill wurde auch nicht gesagt, dass ihr damaliger Partner später von einer weiteren Frau wegen Drohung und Nötigung angezeigt worden war und er deswegen wieder in Untersuchungshaft genommen wurde. Der Täter war 2006, als er Nicole Dill kennenlernte, zwar auf freiem Fuss, war aber nur unter strengen Auflagen aus der Untersuchungshaft entlassen worden.
Datenschutz oder Opferschutz?
«10vor10» hat beim Strafrechtsprofessor Martin Killias nachgefragt. Er hat vor Jahren im Auftrag der Klägerpartei ein Gutachten zum Fall erstellt. «Datenschutz wird in der Schweiz exzessiv gepflegt, vor allem im Verhältnis zu anderen Rechtsgütern wie Leib und Leben; die kommen irgendwie zu kurz», meint Killias. In einer Notsituation müsse es möglich sein, dass Informationen weitergegeben werden.
Zwei Wochen nach dem Telefongespräch mit der Luzerner Polizei kam es zum Mordversuch. Nicole Dill hätte ihr Unwissen fast mit dem Leben bezahlt.
Für sie ist völlig klar, welche Rechtsgüter mehr wiegen. Deshalb klagt sie jetzt gegen den Kanton Luzern. Ihre Klage wird am Donnerstag beim Friedensrichter eingehen. Wenn es zu keiner Einigung kommt, werden Dill und ihre Anwältin mit der Klage ans Bezirksgericht Luzern gelangen.
Es gibt keine Auskunftsmöglichkeit
Daniel Jositsch, Professor für Strafrecht an der Universität Zürich, sagte zum Fall Dill in der Sendung «10vor10», dass das Gesetz keine Möglichkeit kenne, bei Behörden einfach nachfragen zu können, was etwa ein Partner für eine Vergangenheit hat.
«Aus juristischer Sicht ist das richtig, weil wir sonst in eine Art privaten Überwachungsstaat kommen, in dem jeder über jeden einen Strafregisterauszug verlangen kann.»
Jositsch schränkt aber ein, dass der Staat im Strafvollzug gefordert sei. Bei einem Täter, der im Strafvollzug war, den die Behörden als gefährlich identifiziert haben, bestehe eine staatliche Verantwortung, denn «wenn ein solcher Täter wieder auf freien Fuss kommt, muss die Sicherheit für die Öffentlichkeit gewährleistet sein.»
Die Polizei selber kann nichts tun
In einer Situation, wie sie im Fall Dill eingetreten ist, steckt die Polizei in einer schwierigen Situation, erklärt Jositsch. «Grundsätzlich kann sie erst handeln, wenn etwas passiert ist. Im vorliegenden Fall hätten die Strafvollzugsbehörden verständigt werden müssen.» Diese hätten dann entscheiden können, wie man aktiv werden kann, etwa über die Erwachsenenschutzbehörde. Die Polizei selber kann nichts tun.
Bei der eingereichten Haftungsklage gegen den Kanton Luzern gehe es lediglich um eine finanzielle Entschädigung. «Der Kanton könnte, wenn nachweislich ein Fehler passiert ist, finanziell in die Pflicht genommen werden», sagt Jositsch.