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Schweiz «Heute muss der Kapitalismus keine Rücksicht mehr nehmen»

Helmut Hubacher ist der Doyen der Schweizer Sozialdemokratie. Der 90-Jährige sagt mit einem Blick zurück, warum die Schweiz derart erfolgreich wurde, und wo die Probleme der modernen Schweiz liegen.

SRF: Sie werden am Freitag 90 Jahre alt. Ich gratuliere. Wie fühlen Sie sich?

Zur Person

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Helmut Hubacher war von 1975 bis 1990 Präsident der SP Schweiz. Nach einer Lehre als SBB-Stationsbeamter wurde er 1953 Gewerkschaftssekretär des VPOD und 1963 Chefredaktor der Basler AZ. Von 1963 bis 1997 war er Nationalrat. In seinen Büchern setzt er sich kritisch mit der Schweizer Politlandschaft auseinander.

Helmut Hubacher: Man gewöhnt sich dran. Es wird langsam zur Routine, wenn man schon 89 Geburtstage hinter sich hat. Aber ich fühle mich gesund. Es geht mir gut.

Wie haben Sie das gemacht?

Die ersten Medikamente überhaupt hab ich kürzlich vor einer Operation genommen, weil ich Schmerzen hatte. Ich habe viel gearbeitet und ich habe meine Arbeit immer gerne gemacht. Und ich habe mich nie stressen lassen. Ich war 34 Jahre lang im Bundeshaus. Das bisschen Freizeit, das ich noch hatte neben Parteipräsidium, Familie und Beruf wollte ich mir bewahren. Wenn ich alle Einladungen angenommen hätte, hätte ich viel zu viel gegessen, zu viel getrunken und zu wenig geschlafen. 95 Prozent der Einladungen landeten deshalb im Papierkorb.

Ein guter Entscheid.

Ich muss mich selber loben. Ich bin stolz auf mich.

Können die Politiker im Parlament im Moment auch stolz sein? Grosse Würfe haben nur noch wenig Chancen.

Der Kompromiss ist in der Schweiz das politische Mittel schlechthin. Im Moment haben wir Probleme, weil die SVP nicht wirklich kompromissbereit ist. Das war nicht immer so. 1948 trat die AHV in Kraft. Das Dossier wurde damals von einem freisinnigen Bundesrat, von Walter Stampfli, mitgetragen. Dies, obwohl die AHV ein sehr schlechtes Geschäft für Wohlhabende ist. Heute würden wir ein solches Dossier nicht mehr durchbringen. Der nächste grosse Test, ob unser Konkordanz-System noch funktioniert, wird die anstehende 11. AHV-Revision sein.

Und was ist Ihre Prognose? Schaffen wir das?

Ich bin kein Hellseher. Aber ich glaube, das Volk erwartet hier eine Lösung. Die AHV ist nach wie vor unser grösstes Sozialwerk. Bei einem zu starken Leistungsabbau würde garantiert das Referendum folgen. Es muss also einen Kompromiss geben.

Nicht nur hierzulande, weltweit haben sich die Fronten verschärft. Dem kann sich die Schweiz wohl kaum entziehen.

Wir haben weltweit eine marktradikale Gesellschaft erhalten. In vielen Ländern besitzt eine ganz kleine Minderheit von 3 oder 4 Prozent den grössten Teil des Vermögens und generiert gleichzeitig die grössten Einkommen. Milliarden-Konzerne wie Google, Apple und Amazon bezahlen fast keine Steuern. Der frühere deutsche Bundeskanzler, Helmut Schmidt, der eher ein konservativer Sozialdemokrat war, sprach vom Raubtierkapitalismus.

Haben hier die Sozialdemokraten nicht versagt?

Das ist für mich keine parteipolitische Frage. Das ist eine gesellschaftspolitische Entwicklung, auf die die Sozialdemokraten wenig Einfluss haben und hatten. Nachdem die Sowjetunion 1990 zusammengebrochen ist, ist der Kalte Krieg zwischen dem kapitalistischen und kommunistischen System verschwunden. Der Kapitalismus blieb als Sieger zurück. Die Sowjetunion war zwar ein grauenhaftes System, das wir abgelehnt haben. Aber die Sowjetunion bildete ein Gegengewicht zum Kapitalismus. Dank dieses Gegengewichts wurden im Sozialbereich mehr Zugeständnisse gemacht. Die Bürgerlichen wollten schliesslich nicht, dass die Kommunisten Oberwasser bekommen. Heute ist nur der Kapitalismus übrig geblieben und muss keine Rücksicht mehr nehmen.

Sie erwarten eine Gegenbewegung?

In der Schweiz brächten wir im Moment nicht 350‘000 Menschen auf die Strasse wie damals beim Generalstreik von 1918. Uns geht es gut. Aber laut Klaus Schwab von WEF in Davos sollen im Zuge der Digitalisierung ein paar Hunderttausend Jobs nicht mehr nötig sein. Es braucht beispielsweise keine Sekretärinnen, keine Kassierer, keine Chauffeure mehr. Das ist ein weltweites Problem. Wenn der Mittelstand zu viele Abstriche machen muss, dann wird der Kessel explodieren.

Grosskonzerne agieren weltweit, während politische und gesetzgeberische Einheiten national oder gar kommunal organisiert sind. Wie lässt sich das Dilemma auflösen?

Die Genossenschaften und Betriebe des Service Public werden immer wichtiger. Wenn wir sie so bewahren, wie sie sind, kann man sie nicht einfach nach China verkaufen. Des Weiteren ist klar: Wenn das System weltweit nicht gerechter wird, dann wird es Gegenbewegungen geben. Attac ist so eine. Die Vereinigung setzt für die Besteuerung von Finanztransaktionen ein. Da agieren weltweit 90‘000 Mitglieder.

Weltweit verändern im Moment vor allem Flüchtlingsströme die Welt. Anstatt in ihren Staaten die Systeme anzuprangern, fliehen Migranten in jene Länder, in denen sie augenblicklich eine Perspektive haben.

Ich bin nicht für andere Länder zuständig. Es ist meine Hoffnung, dass die Menschen dort gegen den Raubtierkapitalismus und gegen Ungerechtigkeit aufstehen, wo sie zuhause sind.

Wir sind aber wieder zuständig dafür, wenn die Flüchtlinge in die Schweiz kommen. Die Flüchtlinge belasten letztendlich auch unsere Sozialwerke.

Wir können das Flüchtlingsproblem nicht lösen.

Wo ist die Grenze? Wie viele Flüchtlinge erträgt die Schweiz?

Ein Land kann nicht unbegrenzt Flüchtlinge aufnehmen. Wo dieses Limit ist, das kann ich Ihnen nicht sagen. Heute verhindert nicht die SP eine adäquate Flüchtlingspolitik, sondern die SVP. Gute Rahmenbedingungen für eine gute Flüchtlingspolitik zu schaffen mit einer SVP, die alles torpediert, ist nicht einfach. Hier liegt auch meine grösste Sorge für die Schweiz.

Die böse SVP?

Dass man in der Politik Gegner hat, gehört zur Demokratie. Ich mache mir aber Sorgen, dass wir bei aller Gegensätzlichkeit nicht mehr in der Lage sind, das Gemeinsame zu finden. Die SVP schlägt neue Töne an. Blocher hat letzthin gesagt, wir hätten eine Diktatur. Die Freisinnigen waren in den letzten hundert Jahren die stärkste Kraft. Es war ein harter Gegner, aber sie gingen nie so weit wie die SVP. Wenn es draufankam, fanden wir immer noch den Schulterschluss zwischen links und rechts. Ich bin mir nicht mehr sicher, ob die Konkordanz weiter aufrechterhalten werden kann. Das treibt mich um.

Und persönlich, was treibt Sie da um? Haben Sie noch Ziele?

Eine ältere Frau fragte mich auf dem Bundesplatz in Bern neulich, was ich jetzt mache. Ich sagte ihr, ich sei Kolumnist. Da antwortete sie mir: Aha, Sie sind jetzt auch noch Kommunist geworden. Nein, also nun, ich schreibe regelmässig Kolumnen und ich arbeite an einem neuen Buch. Dieses wird persönlicher als meine bisherigen. Grundsätzlich bin ich also nicht im Ruhezustand, ich bin im Unruhezustand. Ich kann nicht nichts machen. Und hoffe, dass das so bleibt.

Das Gespräch führte Christa Gall

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