«Es gibt kein Heim, in dem es keine sexuelle Ausbeutung gibt», das sagte im Februar 2011 Aiha Zemp. Sie leitete bis Ende 2010 die Fachstelle Behinderung und Sexualität (fabs) und beschrieb ungeschminkt die damalige Situation.
Im Februar 2011, wenige Tage nach bekannt werden des wohl grössten Missbrauchsfalls der Schweiz, schwappte eine Welle der Empörung durch das Land. Behinderteninstitutionen und Betreuungskonzepte wurden arg infrage gestellt.
In der Zwischenzeit hat sich die Sozialbranche vom Kollateralschaden weitgehend erholt. Die wichtigsten Behindertenorganisationen hatten Ende 2011 zusammen mit dem Berner Heimverband einen 10-Punkte-Plan verabschiedet. Die Charta «Wir schauen hin!» setzt auf die Null-Toleranz-Politik und Prävention.
Jedem Verdacht soll nachgegangen werden. Transparenz und Weiterbildung werden stark gewichtet. Zudem wurden klare Regeln bei Neuanstellungen definiert. So werden ein Auszug aus dem Strafregister und gezielte Referenzen verlangt.
Das sind wichtige Massnahmen – doch reichen diese alleine nicht aus, schreibt Curaviva, der Dachverband der Schweizer Alters- und Pflegeinstitutionen. Eine zentrale Rolle komme den Kantonen zu. Sie seien es, die die Betriebsbewilligungen erteilen. Die Aufsichts- und Kontrollfunktion müsse gewissenhaft wahrgenommen werden. Eine Betriebsbewilligung soll zwingend mit der Charta verknüpft sein.
Bei den Meldestellen habe in der jüngsten Vergangenheit die Zahl der Fälle zugenommen, sagt Dominik Lehmann von Curaviva. «Das heisst nicht automatisch, dass es auch mehr Fälle gibt, aber es zeigt, dass die Sensibilisierung heute höher ist; dass also besser hingeschaut und abgeklärt wird.»
Hinschauen trotz Spardruck
Noch weiter geht Ueli Affolter Geschäftsführer des Heimverbandes Socialbern. Er verlangt eine externe Meldestelle nach deutschem Vorbild. «Wir haben in der Schweiz zwar einen Datenschützer und auch einen Konsumentenschützer, aber keinen Missbrauchsschützer», reklamiert Affolter.
Das Internetforum «MyHandicap» begrüsst alles was Richtung Aufklärung und Transparenz geht. Allerdings leiden diese Absichtserklärungen häufig unter dem allgemeinen Spardruck. Wie lassen sich diese Konzepte und Regeln umsetzen, wenn gleichzeitig bei den Sozialausgaben gesparte werden soll, fragt sich Simon Müller. Die Plattform «MyHandicap» hat in der Schweiz 35'000 User und gibt Antworten auf die Fragen von Behinderten in allen Lebenslagen.
Experten befürchten hier sogar den sogenannten «Fukushima-Effekt». Verschwindet das Thema aus der Wahrnehmung, nimmt der öffentliche Druck für einen Kurswechsel im Umgang mit behinderten Menschen wieder ab. Hier steht ganz klar die Politik in der Verantwortung, meint Lehmann. Behörden müssten ungeachtet der Finanzlage ihre Verantwortung wahrnehmen.