Das Szenario ist nicht aus der Luft gegriffen: Terroristen entführen eine Passagiermaschine und wollen es auf ein vollbesetztes Fussballstadion abstürzen lassen.
Ist es zulässig, in einem solchen Fall die Maschine mit 164 Insassen abzuschiessen – um dafür mehrere zehntausend Zuschauer in einem Fussballstadion zu retten?
Dieses Dilemma behandelt ein Film, der heute Abend auf SRF 2 gezeigt wird. Ein deutscher Kampfjet-Pilot schiesst eine zur Waffe gewordene Passagiermaschine ab.
VBS-Chef entscheidet über Abschuss
In der Schweiz ist weitgehend unbemerkt der Artikel 92a ins Militärgesetz aufgenommen worden. Dieser Artikel erteilt dem Vorsteher des VBS unter gewissen Voraussetzungen die Entscheidungsgewalt über einen Abschuss. Bisher war dies nur in einer Verordnung festgehalten worden.
Der Staat soll also über das Leben der Passagiere entscheiden können. Das sorgt für Kritik.
Verstoss gegen Menschenrechte?
Nationalrat Balthasar Glättli (Grüne/ZH) sagt: «Ich finde den Artikel 92a grundsätzlich falsch. Aus meiner Sicht, ganz persönlich, gibt es ein absolutes Verbot des Staates, zu töten. Darum darf er auch nicht Leben opfern, um andere Leben zu schützen. Artikel 10 der Bundesverfassung garantiert das Grundrecht auf Leben. Dessen Kerngehalt ist, dass der Staat nicht selbst töten darf. Der Staat darf keine entführte Passagiermaschine abschiessen, weil er aktiv die Unschuldigen tötet.»
Auch in der Botschaft des Bundesrates zum Militärgesetz sind verfassungsrechtliche Bedenken aufgeführt. Eine Abwägung «Leben gegen Leben», bei welcher der Staat Menschen opfere, um eventuell eine grössere Zahl unschuldiger Menschen zu retten, verletze die Menschenwürde gemäss Bundesverfassung.
Ähnlich argumentierte das deutsche Bundesverfassungsgericht , und hat eine entsprechende Gesetzesbestimmung in Deutschland aufgehoben.
Wer soll entscheiden?
Die Zürcher SP-Nationalrätin Chantal Galladé teilt die Ansicht, dass der Staat Menschenleben nicht aufrechnen dürfe. Aber: Eine Gesetzesbestimmung müsse es geben. Auch wenn ein Flugzeug etwa ein Atomkraftwerk ansteuern würde. «Und ein solcher Abschuss-Entscheid kann nur von einem politischen Entscheidungsträger gefällt werden», sagt Galladé.
Terrorismus hat seit dem 11. September neue Formen angenommen. Man muss gesetzgeberisch die Möglichkeiten haben, dagegen vorzugehen.
Für den Schaffhauser SVP-Nationalrat und Piloten Thomas Hurter ist eine gesetzliche Regelung wichtig. «Der Terrorismus hat seit dem 11. September 2001 neue Formen angenommen. Man muss gesetzgeberisch die Möglichkeiten haben, dagegen vorzugehen. Es ist sehr wichtig, dass wir nach aussen zeigen, dass wir dies nicht dulden. Ein solches Gesetz hat auch eine präventive Wirkung, indem es mögliche Terroristen davon abhält, so etwas zu tun.»
Eine Güterabwägung müsse in einer solchen Situation als letzter Ausweg zulässig sein, findet Nationalrätin Corina Eichenberger-Walther (FDP/AG). «Da muss es doch möglich sein, auch wenn es stossend ist, dass diejenigen Menschen am Boden gerettet werden können und «nur» die Passagiere ihr Leben lassen müssen durch einen Abschuss – wobei sie beim Sturz in die Menge das Leben ja auch lassen müssten.»
Menschenwürde verbietet Nützlichkeitskalkül
Nichtsdestotrotz: Art. 92a des Militärgesetzes kollidiere mit dem verfassungsmässigen Recht der Menschenwürde, sagt Prof. Axel Tschentscher, der an der Universität Bern Rechtsphilosophie und Verfassungsrecht lehrt.
«Ich bin der Überzeugung, dass dem Staat ein solches Nützlichkeitskalkül verboten ist. Der Staat darf nicht rechnen, dass man eine gewisse Zahl Menschen opfert, um eine grössere Zahl Menschen zu retten. Er muss aus Prinzip die Menschenwürde schützen.»
Dilemma für den Piloten
Ungeachtet aller rechtstheoretischen Diskussionen: Es ist möglich, dass der Verteidigungsminister nicht rechtzeitig erreichbar ist. Dann würde sich das moralische Dilemma wohl dem Piloten oder dem Einsatzleiter am Boden stellen.
Rechtsprofessor Tschentscher sagt dazu: «Was dem Staat verboten ist, gilt nicht gleichermassen für den Piloten. Der Pilot könnte vor Gericht trotzdem freigesprochen werden, falls er sich in dieser Notsituation für den Abschuss entscheidet.»