SRF News: Als Chefpädagoge beim Lehrerverband, welche Tipps geben Sie den Schweizer Schulen im Umgang mit «Mein Kampf»?
Jürg Brühlmann: Für die Schweizer Schulen wird das wenig Änderungen mit sich bringen. Vielleicht werden bei den Lehrmitteln noch mehr direkte Zitate eingebaut als bisher. Aber ich nehme nicht an, dass jedes Lehrerzimmer dieses Buch ab jetzt im Regal haben wird. Man wird es vielleicht als Geschichtslehrer lesen und etwas Interessantes finden, das man in den Unterricht einbauen könnte.
Sehen Sie etwas Interessantes in dem Buch, das man einbauen könnte?
Seit etwa 20 oder 30 Jahren arbeitet man viel mehr mit direkten Zitaten von Zeitzeugen. Zum Beispiel rund um den Ersten Weltkrieg oder den Generalstreik: Man hat eine Aussage eines Arbeiterführers oder eine eines Generals, der die Streikenden hat niederknüppeln lassen. So sieht man, dass die Politiker und die direkt Betroffenen ganz andere Perspektiven hatten. Dieser Kontrast ist interessant.
«Mein Kampf» kann man genau so einsetzen und schauen: Wie hat Hitler versucht, die Leute zu überzeugen? Ist es überhaupt überzeugend, was er schrieb? Würde ich das ganze, dicke Buch in diesem Stil lesen wollen? Oder ist seine Überzeugungsarbeit nicht vielmehr über Radioansprachen gelaufen?
Sie waren früher selbst Primar- und Sekundarlehrer und haben Geschichte unterrichtet. Haben Sie das Buch in den Unterricht einfliessen lassen?
Das Buch war sehr schwer zu bekommen. Es gab keinen Schweizer Verlag, der das nachgedruckt hat, und in Deutschland war es verboten. Man hat es nur auf dem Schwarzmarkt oder vielleicht in Antiquariaten bekommen. Deshalb musste man sich auf die Zitate abstützen, die in Geschichtsbüchern vorkamen.
Das waren nicht sehr viele, aber man hat sie natürlich gerne benutzt. Denn man las darin den Originalton Hitlers, und konnte das mit der historischen Realität kontrastieren. Das habe ich gemacht, und das war immer eine spannende Ausgangslage für Diskussionen mit den Kindern über historische Situationen. Man kann sich kontradiktorisch unterhalten, und jeder kann sich seine Gedanken machen.
Diese Zitate waren bisher nicht kommentiert. Die neue Ausgabe beinhaltet zahlreiche Fussnoten. Inwiefern ist das hilfreich?
In den Geschichtsbüchern waren die Zitate sehr wohl eingebettet. Aber in dieser Ausgabe sind sie nun viel tiefer, viel umfassender eingebettet. Von einem Lehrer, der die ganzen Epochen vom Beginn der Menschheit bis zur heutigen Zeit unterrichten muss, kann man nicht erwarten, dass er alle Details kennt. Deshalb sind Lehrer immer interessiert daran, dass es gute Materialien gibt.
Mit diesem kommentierten «Mein Kampf», in dem alle Zitate in den historischen Kontext eingebettet sind, kann man sich kundig machen und den Unterrichtsstoff zusammenstellen. Schliesslich gibt es heute auch das Internet, welches sehr hilfreich ist. Das gab es früher noch nicht.
Glauben Sie, dass das auch die Schüler interessieren wird?
Die Schüler interessiert alles, was nahe am Leben ist. Wenn sie sich eine Vorstellung machen können, wenn sie Betroffenheit erleben, wenn sie einen Bezug herstellen können zu ihrem eigenen Leben, vergleichen können, mit dem, was sie heute sehen und hören, das ist für Schüler interessant.
Sobald es losgelöst ist von einem Kontext, in den sie sich einfühlen können, wird es schwierig. Das gilt generell für Texte, aber sicher auch für «Mein Kampf». Aussagen von Hitler sind immer berührend, weil sie offen rassistisch sind und sehr direkt. In der heutigen Zeit, in der wir es wieder mit Flüchtlingen zu tun haben, mit dem Thema «wir und die anderen», hat das wieder eine besondere Aktualität. Wenn man liest, was Hitler sagt, wird man nicht darum herumkommen, dies mit dem Hier und Jetzt zu vergleichen.
Ich nehme nicht an, dass mehr als ein paar Zitate in den Unterricht einfliessen werden. Denn das wäre eher langweilig.
Haben Sie auch Verständnis für Lehrpersonen, die mit dem nun erschienenen Buch in ihrem Unterricht nichts anfangen können?
Selbstverständlich. In der Schweiz haben wir keine Verpflichtung, bestimmte Quellen oder Bücher zu zitieren. Man kann gut über den Zweiten Weltkrieg und die vorausgegangene Zeit unterrichten, ohne direkte Zitate aus «Mein Kampf» zu verwenden. Es gibt genügend Quellen.
«Mein Kampf» war das erste grosse Werk Hilters, bevor er politisch an Bedeutung gewann. Es ist interessant zu lesen, was er sich damals überlegt hat, bevor er an der Macht war. Relevant ist, was danach geschah, und die meisten Lehrpersonen konzentrieren sich darauf.
Viele Schulen zeigen Filme, in denn man Hitler sieht, wie er spricht, wie er auf die Menschen wirkt. Unsere mediengewohnten Kinder und Jugendlichen können das einschätzen und sehen die Unterschiede zu heute. Das ist wahrscheinlich spannender, als viele Seiten aus «Mein Kampf» zu lesen. Ich nehme nicht an, dass mehr als ein paar Zitate in den Unterricht einfliessen werden. Denn das wäre eher langweilig.
Das Gespräch führte Roger Aebli.