Mit dem Entscheid des Nationalrats ist das Bundesgericht weiterhin gezwungen, auch verfassungswidrige Bundesgesetze anzuwenden. Dabei handelt es sich um einen der ältesten Zankäpfel der Schweizer Politik: Bis heute können die eidgenössischen Räte Gesetze erlassen, die der Verfassung widersprechen. Die Bundesverfassung selber erklärt diese für massgebend für die Schweizer Gerichte.
So sah sich das Bundesgericht in der Vergangenheit immer wieder gezwungen, Gesetze anzuwenden, die es selber als verfassungswidrig beurteilte. Oft enden diese Verfahren in Strassburg, wo der Menschenrechtsgerichtshof eine Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) feststellte und die Schweizer Behörden zur Ordnung rief.
Gespenst der politisierenden Richter
Das seit der Gründung des Bundesstaats geltende System wurzelt im Grundsatz der Gewaltentrennung: Das höchste Gericht soll sich nicht über den Bundesgesetzgeber stellen können. Dahinter steckt auch ein gewisses Misstrauen gegenüber den Gerichten, die Angst vor dem Bundesgericht als politische Instanz.
Als warnende Beispiele gelten den Gegnern der deutsche Bundesgerichtshof, der regelmässig Erlasse des Parlaments wegen Unvereinbarkeit mit dem Grundgesetz aufhebt, oder der Supreme Court in den USA.
Bereits im Ständerat ohne Chance
Der letzte Anlauf zur Einführung der Verfassungsgerichtsbarkeit wurde mit der Totalrevision der Verfassung 1999 unternommen. Wenige Jahre später nahm der Nationalrat zwei parlamentarische Initiativen an mit dem Ziel, Artikel 190 der Bundesverfassung aufzuheben. Diese Bestimmung erklärt Bundesgesetze für die Gerichte für massgebend, wie es ein «10vor10»-Beitrag vom Dezember 2011 thematisiert.
Der Ständerat wollte auch davon nichts wissen und trat in der vergangenen Sommersession auf die Vorlage gar nicht erst ein. Dies nachdem bei der bürgerlichen Mitte und – von den Gewerkschaften geschürt – auch bei der Linken die Zweifel gewachsen waren.
Parlament kann verfassungswidrig entscheiden
Die dem Entscheid vorangehende Debatte drehte sich um die grosse Frage der Demokratie. Namens der Rechtskommission versuchte Daniel Vischer (Grüne/ZH) die Angst vor dem Richterstaat und vor der «Verrechtlichung der Politik» zu zerstreuen. In den Kantonen, deren Gesetze das Bundesgericht überprüfen könne, stehe die Politik auch nicht unter der Fuchtel der Gerichte.
Die Verfassungsgerichtsbarkeit diene dem Rechtsstaat und schwäche die Demokratie keineswegs, sagte Beat Flach (GLP/AG) und verwies auf die mit dem doppelten Mehr von Volk und Ständen legitimierten Verfassungsbestimmungen. Der Zürcher Rechtsprofessor Daniel Jositsch (SP/ZH) erinnerte daran, dass das Bundesparlament heute die Verfassung schlicht übergehen könne. «Erklären sie das einmal einem normalen Bürger!»
«Matchball der Demokratie»
Das fiel den Gegnern nicht schwer: Luzi Stamm (SVP/AG) sprach vom «Matchball der Schweizerischen Demokratie». Es dürfe nicht sein, dass ein kleines Richtergremium einen Entscheid aufheben könne, den Parlament und Volk in einer langen politischen Debatte getroffen hätten. «Unser System ist wohl austariert. Es gibt keinen Grund, daran herumzuschrauben.»
Karl Vogler (CVP/OW) erinnerte daran, dass die Konkretisierung der Verfassung die Kernaufgabe der Legislative sei. Wie andere Redner der gespaltenen bürgerlichen Mitte anerkannte aber auch er die Systemfehler der geltenden Regelung. Dazu gehört insbesondere, dass zwar nicht die Bundesverfassung, aber die EMRK Bundesgesetze aushebeln kann.