Das Bundesgericht tat sich nicht leicht mit den Behinderten und ihren Anliegen. Das begann schon vor der Verhandlung. Drei dutzend Treppenstufen aus feinstem Marmor muss hinter sich bringen, wer in Lausanne zu den höchsten Richtern vordringen will. Mit dem Rollstuhl geht das nicht.
Ein Lift ist zwar vorhanden. Aber vor dem Gerichtssaal lauern weitere Treppenstufen. Es braucht drei Weibel und eine Rampe. Erst dann können die Vertreter der Behindertenverbände verfolgen, wie fünf Richter zwei Stunden lang um ein Urteil ringen.
Das Prunkstück der SBB
Konkret geht es um die künftigen Prunkstücke der SBB: die neuen Doppelstock-Fernverkehrszüge. Sie sind frühestens ab 2015 im Einsatz. Die SBB wollten den Behinderten entgegenkommen. Sie sollten künftig im Unterdeck des Speisewagens mitreisen können.
Doch das Bundesverwaltungsgericht beurteilte die konkrete Lösung im März 2012 als diskriminierend. Es forderte, dass auch in einem der normalen Reisewaggons eine Behindertentoilette und Rollstuhlplätze eingebaut werden.
Intensive Diskussion
Und wie entschieden die Bundesrichter? Sie waren sich in zwei Punkten einig: Behinderte sollten nicht diskriminiert werden. Und: Völlige Gleichstellung gibt es trotzdem nicht. Die Richter diskutieren darüber zwei Stunden lang intensiv – auf wechselndem Niveau.
Mal näherten sich die fünf Richter den Behinderten-WCs mit grundsätzlichen Überlegungen zum Rechtskonzept. Feinsäuberlich unterschieden sie, welche Leistungen die SBB anbieten. Das sind zwei: Reisen und Essen. Die Richter diskutierten, was diese Leistungen für die Gleichstellung bedeuten.
Mal gaben die Richter auch ganz persönliche Bekenntnisse ab: für die SBB. Für die angenehme Atmosphäre im Speisewagen. Und gegen die Unsitte, dass Reisende in normalen Waggons essen oder sich sogar maniküren.
Ein knappes Ergebnis
Unter dem Strich entschieden die Richter mit Abstimmung zwei gegen drei, dass die SBB auf den Einbau einer zweiten Behindertentoilette verzichten dürfen. Warum? Weil die Bundesbahnen im Speisewagen beide Leistungen anbieten würden: Reisen und Essen.
Joe Manser, Geschäftsführer der Fachstelle behindertengerechtes Bauen, zeigt sich enttäuscht. Leider hätten die Richter nicht erkannt, was das Reisen im Unterdeck des Speisewagens bedeute: «Dieses Restabteil ist ein Ghettoabteil. Nicht behinderte Menschen werden sich dort nicht aufhalten.» Es sei weder die erste noch die zweite Klasse und auch kein Restaurant.
Die SBB zeigen sich dagegen erfreut. Endlich könnten die Arbeiten für die neuen Züge ungebremst weitergehen.
(prus;basn)