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Schweiz «Schwarzer Block widerspricht anarchistischer Lehre»

Auf dem Berner Bremgartenfriedhof ruht einer der unruhigsten Geister seiner Zeit: Michail Alexandrowitsch Bakunin, russischer Anarchist und Revolutionär. Vor 200 Jahren wurde er geboren. Seine geistigen Ururenkel feiern dies am Wochenende in Bern mit zahlreichen Veranstaltungen.

Schriftzug «Michel Bakunin» auf seinem Grabstein in Bern, davor eine Rose, Bild schwarz-weiss.
Legende: Der Grabstein von Bakunin: Am 1. Juli 1876 starb der russische Anarchist in Bern. Keystone

Ursin Della Morte kennt sich auf dem weitläufigen Bremgartenfriedhof in Bern aus. Auf Anhieb findet der 26-jährige Geschichtsstudent das Grab von Michail Alexandrowitsch Bakunin. «Er ist eine der berühmtesten Personen, die in Bern begraben liegen. Deshalb ist es wichtig, dass das Grab noch existiert.»

Das Grab hat sich über die Jahre verändert, es wurde gar zu einer Art Pilgerstätte. Ständig schmücken zwei frische, weisse Rosen das Grab des alten Anarchisten, hingelegt von unbekannten Verehrern. Das versteht der junge Anarchist Della Morte nur halbwegs: «So etwas wie heilige Erde gibt es für mich im Anarchismus nicht.»

Unterschied zum Marxismus

Und Heldenverehrung gebe es erst recht nicht. Schliesslich habe Bakunin selber immer darauf geachtet, seine Theorien und Erkenntnisse nicht einfach von oben herab zu verordnen: «Die Menschen haben auch nie gesagt, ‹Bakunin hat gesagt›, wie das die Marxisten oft tun, sondern brachten ihre eigenen Gedanken in die Diskussion ein.»

So jedenfalls will es die Legende. Für Della Morte sind alle Menschen gleichberechtigt. Hierarchien haben keinen Platz, weder im privaten noch im politischen Bereich: «Für mich ist Anarchismus Freiheit, Solidarität und gegenseitige Hilfe. Es ist eine Gesellschaftstheorie, die sich gegen den Staat wendet, aber nicht nur. Sie wendet sich gegen jede Herrschaft eines Menschen über einen anderen.»

In einem Atemzug mit Schwarzem Block

Den meisten Leuten kommt beim Stichwort Anarchismus wohl eher Chaos und Gewalt in den Sinn, Bilder von schwarz vermummten Extremisten: «Man kann es den Leuten nicht vorwerfen, denn so wird der Begriff in der Öffentlichkeit zu 90 Prozent gebraucht.» Und dies nicht immer ganz zu Unrecht, gibt Della Morte zu.

Der freundliche junge Mann mit den sanften Augen will Gewalt als Mittel im politischen Kampf auch nicht vollständig ausschliessen. Aber ein vermummter Schwarzer Block widerspreche eigentlich der reinen anarchistischen Lehre vom freien Individuum. «Meiner Meinung nach ist es wichtiger, auf Menschen zuzugehen und zu versuchen, sie für die Ideale zu gewinnen, als militant aufzutreten.»

Zwischen politischen Stühlen

Deshalb fände er die Taktik der Vereinheitlichung und Vermummung – also der «Wegnahme des Individuums» – nicht so gut. Dass Anarchisten aber von allen angefeindet werden, von den Linken wie den Rechten, das liege halt in der Natur der Sache: «Das hängt wahrscheinlich damit zusammen, dass fast alle Strömungen Macht erreichen wollen. Und die Anarchisten wollen die Macht dem Boden gleichmachen.»

Der Platz zwischen allen politischen Stühlen sei aber gar nicht mal der schlechteste, findet er. Und Raum, sich zu entfalten, gebe es genug.

Della Morte schreibt zurzeit noch die Abschlussarbeit an der Universität – natürlich mit dem passenden Titel «Anarchismus und Transnationalismus in Bern 1900-1950». Danach will er eine handfestere Karriere in Angriff nehmen. «Ich beginne in einem Jahr eine Schreinerlehre, weil mich die akademische Welt wenig befriedigt.»

Uranarchist Bakunin hätte wohl einen riskanteren Weg gewählt. «Ich denke, im Moment würde er in der Ukraine sein», schätzt Della Morte. Zu Lebzeiten hat Bakunin kaum einen Umsturz ausgelassen. Ins betuliche Bern kam er erst zum Sterben.

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