Dienstagnachmittag. Die jüdische Sekundarschule der Noam (siehe Textbox) befindet sich in der Mitte von Zürich. 13 Jugendliche kehren gerade lärmend aus der Pause zurück. Eine Klassenhälfte hatte in der vorherigen Lektion Physikunterricht, die andere Hälfte lernte hebräische Vokabeln. Im März steht die Übertrittsprüfung für das Gymnasium an.
Jetzt kommt eine ernste Stunde, die Schüler und Schülerinnen wissen das. Die Jungen tragen eine kleine Kopfbedeckung, eine «Kippa», auf ihrem Kopf.
Vor der Klasse steht Herr Marti, der Lehrer, ein bulliger Mann. Im Hintergrund sitzt ein junger Rabbiner, der später mit der Lektion fortfahren wird. Die Jugendlichen stehen kurz auf und warten auf das Zeichen des Lehrers. Das kommt, und die Schüler nehmen ihren Platz ein.
«Dieser Spruch stammt aus dem Talmud»
Auf der Leinwand erscheint ein Spruch: «Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt». Der Rabbiner hinten fügt hinzu: «Dieser Spruch stammt aus dem jüdischen Talmud.»
Der Klassenlehrer will von der Klasse wissen, was die Kinder mit diesem Spruch anfangen können. Ein Mädchen meldet sich: «Jedes Leben ist wichtig.» Ein Junge: «Man muss alles machen, damit ein Leben nicht vernichtet wird.»
Wieder ein Bild, diesmal aus dem Konzentrationslager Auschwitz. Es sind schlimme Fotos. Die Klasse guckt gebannt hin. Keiner, der vor sich hinkritzelt. Einige der Jugendlichen haben Verwandte, die in den Lagern umgekommen sind. Nur wenige melden sich.
Gespannte Aufmerksamkeit
Der Lehrer spürt das Unbehagen. Nur noch eins will er zeigen. Nämlich ein Foto der Befreiung.
Stille. Der Klassenlehrer zitiert aus den Berichten eines Überlebenden, der die Ankunft der russischen Befreier beschreibt: «Sie kamen wie Engel, uns zu befreien.»
Wieder Stille. «Gibt es Anmerkungen von euch?» Doch melden tut sich niemand. Die Klasse, die vorher den Lärm der gegenüber liegenden Strasse übertönte, regt sich nicht.
«Sie, der Mengele ist voll Psycho!»
Die 15- und 16-Jährigen bekommen nun Gruppenarbeiten. In Dreier- und Vierergruppen lesen sie sich in Berichten von Überlebenden ein. Es ist eine Übung für Textverständnis. Eine Frage lautet: «Was sagt er zum Alltag im KZ Auschwitz-Birkenau?» Im Text wird der barbarische Josef Mengele erwähnt, der medizinische Operationen ohne Narkose bei den Häftlingen durchführte. Ein Schüler ruft zum Lehrer: «Sie, der Mengele ist voll Psycho!»
Blickt man in die Runden, erkennt man Unterschiede bei den Jugendlichen. Da gibt es den Jungen, der laut und unaufgefordert einen Überlebensbericht vorliest, dort ein Mädchen, das still den Text durchliest und stoppt. Andere Mädchen werfen den Jungen Blicke zu.
Doch die Aufmerksamkeit verliert sich langsam. Es wird leise gekichert. Die Schüler registrieren den Journalisten und wollen wissen, ob das, was sie miteinander tuscheln, publiziert wird.
Der Rabbiner spricht ein Totengebet
Der Lehrer beendet die Gruppenarbeit. Und fasst die gewonnenen Einsichten zusammen. Es stellt sich heraus, dass die Schüler und Schülerinnen die Überlebensberichte sehr genau durchgelesen haben.
Der Rabbiner kommt nun nach vorne. Er erwähnt nochmals das Zitat: «Wer ein einziges Leben rettet, rettet die ganze Welt». Er hält ein jüdisches Buch in seiner Hand. «Warum hat Gott nur einen Adam und nicht mehrere Adams erschaffen?» Die Klasse hört gespannt zu. «Damit», so der Rabbiner, «alle wissen: Wir stammen alle von nur einem Menschen ab. Niemand ist besser als der andere.» Die Nationalsozialisten hätten aber Unterschiede zwischen «Ariern» und «Nichtariern» gemacht.
Die Lektion neigt sich dem Ende zu. Der Rabbiner bittet die Klasse aufzustehen. Er spricht ein Totengebet, im Andenken an die Opfer.
Die Klasse sagt «Amen» und geht in die Pause.