SRF News Online: Wer einmal in der Sozialhilfe landet, der bleibt dort, so die Meinung vieler. Stimmt das?
Renate Salzgeber: Nein, pro Jahr kommt etwa ein Drittel neu in die Sozialhilfe, ein Drittel geht wieder und ein Drittel bleibt länger als ein Jahr drin. Das ist eine sehr hohe Dynamik.
Letztere sind die so genannten Langzeitbezüger. Wer sind sie?
Es sind Personen mit geringer Ausbildung oder Personen mit einer Ausbildung, die nicht mehr gebraucht wird, etwa Drucker oder Schriftsetzer. Auch Personen, die einen Job haben, aber in einem Niedriglohnbereich arbeiten gehören zu den Langzeitbeziehenden. Dies trifft auf viele Ausländer zu. Eine weitere Risikogruppe sind die Alleinerziehenden, Personen ab 50 Jahren und jene mit gesundheitlichen Problemen. Leute, die mehrere dieser Risikofaktoren auf sich vereinen, sind sehr oft unter den Langzeitarbeitslosen zu finden.
Die Quote der Anzahl der Sozialhilfe-Bezüger bleibt konstant, die Kosten aber steigen. Warum?
Grundsätzlich lässt sich sagen: Die Sozialhilfe übernimmt neu Aufgaben, die früher andere Institutionen oder Firmen getragen haben. Dies betrifft etwa die Wiedereingliederung in die Arbeitswelt. Ältere Personen, die ausgesteuert sind, finden nur schwer wieder einen Job. Die Wirtschaft nimmt hier ihre Verantwortung nicht mehr genügend wahr, diese Leute weiterzubilden. Zudem ist die IV viel restriktiver geworden. Diese Sozialversicherung hat ihre Krankheitsbilder eingeschränkt und bewilligt weniger Renten für Leute mit psychischen Krankheiten oder unklaren Diagnosen. All die Leute sind in der Sozialhilfe.
Und dann gibt es noch einen Grund, weshalb die Sozialhilfe teurer wird: Früher waren all die Institutionen, die in der Sozialhilfe arbeiten, vom Staat subventioniert oder die Anbieter kamen vom Staat selber. Heute sind diese Anbieter privat und kaum mehr subventioniert; die Anbieter müssen nun die vollen Kosten auf die Teilnehmenden überwälzen. Die Kosten pro Person waren deshalb früher tiefer.
Können Sie ein Beispiel geben von früher und heute?
Nehmen wir ein Arbeitsintegrationsprogramm früher: Da wurde etwa vom Staat der Raum gratis zur Verfügung gestellt, auch die ganze Administration wurde vom Staat übernommen. Die Sozialhilfe zahlte also nur noch für die Betreuung der betroffenen Person. Die Politik setzte durch, dass solche Angebote an Private ausgelagert wurden. Eine Firma, die heute im Sozialhilfe-Bereich tätig ist, muss heute ohne diese Subventionen auskommen. Ein Platz kostet folglich mehr. Das hat aber nicht mit der Sozialhilfe-Industrie an sich zu tun, sondern mit der neuen Kostentransparenz.
Die Sozialhilfe-Industrie gibt es. Und die guckt, dass sie genügend Aufträge hat.
Die Industrie gibt’s. Ist das schlecht? Die Firmen stehen in einem Wettbewerb zueinander. Ich glaube nicht, dass sie ein kostentreibender Faktor sind. Aber das müsste man untersuchen. Dazu gibt es noch wenig gesicherte Zahlen. Man ist dran, das zu evaluieren.
Seit der SKOS-Revision von 2005 müssen die Sozialhilfebeziehenden eine Gegenleistung erbringen. Die Leute müssen an Programmen teilnehmen, wenn sie zugewiesen werden. Auch dieser zusätzliche Auftrag an die Sozialämter ist mit Kosten verbunden.
Bei mehr Massnahmen müsste die Quote für die Bezüger eigentlich sinken.
Die Umwelt ist nicht konstant. Die Strukturveränderungen in der Wirtschaft schreiten voran. Es gibt mehr multinationale Konzerne, in denen die Führung den einzelnen Mitarbeiter nicht mehr kennt. Früher haben Firmen die Arbeitnehmer eher noch durch schwierige Phasen begleitet oder ältere Arbeitnehmer bis zum Schluss mitgetragen. Heute werden Personen schneller in eine Versicherung abgeschoben. Auch die Versicherungen haben sich verändert: Neben der IV hat auch die Arbeitslosenversicherung Verschärfungen vorgenommen, da sie aufgrund der vielen Personen, die eine Leistung beanspruchten, in finanzielle Schieflage gerieten. Die Menschen landen schneller in der Sozialhilfe.
Wo muss etwas passieren im Sozialhilfesystem?
Es braucht in den Kantonen einen Lastenausgleich zwischen den einzelnen Gemeinden für die Sozialhilfekosten. Eine Gemeinde mit vielen Bezügern soll nicht mehr die Lasten alleine tragen müssen.