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Schweiz «Therapien bei Sexualtätern wirken»

Nach dem Mordfall an einer Therapeutin in Genf ist die Forderung laut geworden, Sexualstraftäter gar nicht mehr zu therapieren, das bringe offensichtlich nichts. Gegenteiliger Meinung ist Jérôme Endrass vom psychiatrischen Dienst im Zürcher Amt für Justizvollzug.

SRF: Sind Sexualtäter überhaupt therapierbar?

Jérôme Endrass: Es gibt dazu sehr viele Untersuchungen. Sie zeigen, dass Therapien wirken. In einer solchen Behandlung versucht man zunächst, das problematische Verhalten zu identifizieren und dieses dann gezielt anzugehen. Es geht nicht darum, den Menschen grundsätzlich zu verändern, sondern problematische Verhaltensweisen zu verändern.

Jérôme Endrass

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Jérôme Endrass ist stv. Leiter des psychiatrisch-psychologischen Dienstes im Zürcher Amt für Justizvollzug. Der Psychologie-Professor leitet dort die Abteilung für Evaluation und Qualitätssicherung. Studien zum Rückfallrisiko von Sexualstraftätern sind sein Spezialgebiet.

Können Sie ein Beispiel dafür nennen?

Es gibt Vergewaltiger, die haben Vergewaltigungsfantasien. In so einem Fall gehen wir zunächst ganz gezielt diese Fantasien an; damit sie zurückgehen und vom Betroffenen weniger drängend erlebt werden. Die Täter sollen sich so stärker davon distanzieren können, beispielsweise indem sie keine entsprechende Pornografie mehr konsumieren. Auf dieser Ebene versuchen wir zunächst sehr fokussiert zu arbeiten. Dadurch soll die Wahrscheinlichkeit sehr viel kleiner werden, dass die Phantasie ausgelebt wird.

Dabei gestalten Sie für jeden einzelnen Straftäter eine eigene Therapie?

Genau. Zu Beginn wird ein Therapieplan erstellt, in dem die individuellen Risikofaktoren ermittelt werden. Danach plant man gemäss diesen Faktoren die Therapie. In dieser wird an den eruierten Punkten gearbeitet.

Werden die Therapien auch extern begleitet?

Ja, sie müssen extern kontrolliert werden, das ist zwingend. Dafür gibt es geschulte Bewährungshelfer. Sie schauen den Therapeuten sehr genau auf die Finger. Sie kontrollieren, ob die Therapie Hand und Fuss hat und ob die Beurteilung des Therapeuten korrekt ist. Wenn ein Bewährungshelfer etwa feststellt, dass die Beurteilung zu optimistisch ist, würde das sehr schnell rückgemeldet und die entsprechenden Schritte eingeleitet.

Wie sieht danach ihre Erfolgskontrolle aus?

Wir schauen, wer rückfällig wird. Dazu ziehen wir nach ein paar Jahren auch das Strafregister hinzu. So haben wir etwa herausgefunden, dass drei Prozent unserer therapierten Täter rückfällig wurden. Dies verglichen mit einer Rückfallquote von acht Prozent bei nicht-therapierten Straftätern. Die Evaluation erfolgt systematisch. Damit können wir kontrollieren, ob das, was wir tun, auch wirkt und uns verbessern können.

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Im Fall von Fabrice A., dem Täter von Genf, wurde eine Reittherapie verordnet. Da fragt man sich: Wer gestaltet diese Therapie, wie kommt man auf diese Idee?

Mir sind in der Forensik sonst keine Reittherapien bekannt. Allerdings muss man dazu sagen: In der Forensik gibt es nichts, was es nicht gibt. Deshalb kann ich nicht sagen, ob Reittherapien grundsätzlich gut oder schlecht sind. Es mag spezifische Fälle geben, wo genau das die richtige Intervention ist.

Sie können sich aber vorstellen, das so etwas hilfreich sein kann?

Ich bin zurückhaltend, wenn man von Anfang an sagt, dass gewisse Therapieformen undenkbar sind. Aber nochmals: Ich kenne sonst keinen Fall, in dem eine Reittherapie zur Anwendung gekommen ist.

Die Therapien werden durchgeführt, weil die Täter laut Gesetz resozialisiert werden müssen. Dies wird nun von verschiedener Seite hinterfragt. Was halten Sie davon?

Früher hatte man die Tendenz, verstehen zu wollen, wieso ein Häftling eine Straftat begangen hat, um ihn zu entschuldigen. Heute sehen wir das anders: Es gibt einen Grund, wieso jemand dies getan hat und wir müssen es korrigieren. Wenn ein Häftling mit sadistischen Fantasien mit niemandem sprechen kann, wird er sie nicht von alleine los. Leider kommt so ein Täter nicht von alleine auf die Idee, zu versuchen, die Fantasien im Gefängnis loszuwerden. Das heisst, es bleibt gar nichts anderes übrig: Wenn wir individuelle Risiken bei Häftlingen feststellen, müssen wir versuchen, dies zu korrigieren.

Das Interview führte Urs Gilgen.

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